Auch in meinem Staat

Zum dritten Advent eine Fortsetzung der Reihe „In meinem Staat“, einer Träumerei von unserer Gastprinzessin Ilse Bindseil

Auch in meinem Staat findet eine Justizreform statt. Honi soit qui mal y pense. Gegenstand ist das Strafrecht. Weiterungen für das Zivilrecht sind nicht ausgeschlossen.

  1. Absicht

Das Schuldprinzip wird verabschiedet. Es wird ersetzt durch ein mechanisches Prinzip der Äquivalenz: Auf solche Untat folgt solche Strafe. 

  1. Begründung 

Die Ermittlung der Tat betrifft die Fakten, die Ermittlung der Schuld die Person. Der Grenzbegriff der Tat ist die Beweislage, der Grenzbegriff der Schuld die Schuldfähigkeit.

Liegt die Tat offen zutage, kann aber nicht zugeordnet werden, ist sie eine Tat ohne Täter. Ist die Person, der die Tat zugeordnet werden muss, bekannt, aber nicht schuldfähig, kann zwar von einem Täter, einer Täterin, nicht aber von Schuld die Rede sein. So wird in einem mühsamen Beweissicherungsverfahren der Zusammenhang von Tat und Täter gleich doppelt hergestellt. Lässt die Beweissicherung kein Detail der Tat im Dunkeln, so die Schuldfeststellung kein Detail der als Täter identifizierten Person. Vor allem die Zwischenstufen der eingeschränkten Schuldfähigkeit erfordern ein beharrliches Um- und Umstülpen, ein Umkehren von innen nach außen. Ginge es bloß um ein Ding, müsste man sagen: Kein Stein bleibt auf dem andern. Damit soll Schluss sein. Auch vor Gericht gilt das Prinzip der Unantastbarkeit der Person, sprich des Privaten.

  1. Folgen

Für die Einzelnen: Sie wissen stets, woran sie sind. Sie könnten ihr Urteil selbst verhängen. Da sie gegen Gesetze verstoßen haben, tun es zwar andere für sie, aber in Anbetracht des Verstoßes, nicht in Anbetracht ihrer Person. An der Strafe kann man folglich ablesen, um was für einen Verstoß es sich handelt, nicht, um was für eine Person.

Für den Richterstand: Er wird verkleinert, ja, er wird regelrecht geschrumpft. Da die Ermittlung des Urteils sich wesentlich auf das Nachschlagen im Katalog der Äquivalente reduziert, findet eine erhebliche Ersparnis an Ausbildung und Entlohnung der Richter, vor allem eine erhebliche Ersparnis an aufgewendeter gesellschaftlicher Achtung statt, die folglich auf andere verteilt werden kann.

Für den Anwaltsberuf: Analoge Veränderungen, nur von erheblicherem Umfang, die sich aber durch den Markt regulieren werden. Die gesellschaftliche Achtung, die der Anwaltsstand vor sich selbst und die Achtung, die die Gesellschaft vor ihm hat, wird sich einen neuen Adressaten, die aufs Formale gerichtete Intelligenz ein neues Betätigungsfeld suchen. Wie wäre es mit dem Übergangsprojekt, das Juristische aus den Köpfen herauszuschrauben?  

Für die Gesellschaft: Sie wird sich gewöhnen, ohne ihre moralische Verdoppelung in der Sphäre der Rechtsprechung auszukommen; die Tat wird begangen und sie wird bestraft. Überhaupt wird sie sich gewöhnen, mit einem geringeren Maß an symbolischer Repräsentation auszukommen. Gesellschaft bedeutet ja nicht  die Herrschaft von Prinzipien, an denen sich die Einzelnen aufrichten, sondern die Herrschaft von Fakten, an denen sie Anteil haben, und es hat keinen Sinn, auch die eigene unerbittliche Faktizität durch ausufernde Symbolhandlungen mildern zu wollen.

  • Anhang 

Dem Anschein entgegen, hat das Äquivalenzprinzip  mit dem Prinzip des „Auge um Auge, Zahn um Zahn“ nichts zu tun. Äquivalent heißt „entsprechend“, es heißt nicht „genauso“. „Genauso“, im Volksmund auch als Retourkutsche bezeichnet, beantwortet die Tat mit der Gegentat. „Entsprechend“ sucht auf der Skala der Äquivalente das Entsprechende. Die Anweisung heißt nicht: Gehen Sie zurück zur Tat, sondern: Gehen Sie hinüber zur Skala. Für Leute, die am Tatsächlichen hängen: Gehen Sie über die Grenze! Weitere Vorschläge zur Verdeutlichung des Paradigmenwechsels können eingereicht werden. Auf der Skala das Entsprechende zu ermitteln ist seinem Wesen nach integraler Teil staatsbürgerlicher Erziehung. Im Erlebnis, wie die Bedeutung einer Tat sich im mechanischen Vorgang des Katalogisierens und in Bezug Setzens verkrümelt und die Vielfältigkeit menschlicher Untaten an der Einfalt der Strafen zuschanden wird, mag sich ein Verzicht auf allzu großen Individualismus, den übertriebenen Anspruch auf Selbstverwirklichung abzeichnen. Alternative Formulierungen können eingereicht werden. Sublimierung, der Spaß am geistigen Vorgang, könnte die Frustration aufwiegen. 

Anmerkung: Der Eindruck massiver Ungerechtigkeit, der durch die Anwendung eines mechanischen Prinzips entstehen kann, beruht nicht nur auf dem Bedürfnis nach emotionaler Befriedigung und politischer Beschwichtigung durch eine aus dem Gemeinwesen herausgelöste und gleichsam übergeordnete Schuld. Er ergibt sich auch aus der faktischen gesellschaftlichen Ungerechtigkeit, die durch ein Prinzip formaler Gleichheit nichts weniger als ausgeglichen, eher, wie es scheint, noch verdoppelt wird: „So schwer hat er/sie es im Leben bereits gehabt, jetzt bekommt er/sie auch noch solche Strafe aufgebrummt. Das nenne ich: doppelt bestraft.“ Mit dem Reformvorhaben soll die Ungerechtigkeit nicht zementiert, lediglich ihrer bloß symbolischen Aufhebung entgegengewirkt werden. Die Justiz ist nicht der Schauplatz für Kompensationen, sprich Ersatzleistungen. [Ausblick auf das Zivilrecht?] Sie ist reiner Reflex, Formalisierung des Geschehenen zum Zweck seiner – im Organischen würde man sagen – besseren Verdauung. Formalisiert, ist es schon verdaut. Was als beständiger Stein des Anstoßes die Gesellschaft intrigiert und im klobigen Gegensatz von Gleichheit und Gerechtigkeit mehr verstellt als zugänglich gemacht wird, ist an anderer Stelle vorzubringen. Vorschläge einreichen!

Bis zur Umsetzung unseres Journalismusfinanzierungsdekrets kann unsere Arbeit mittels eines einfachen Klicks auf den „Spenden“-Knopf gleich oben rechts unterstützt werden.

Dieser Beitrag wurde am 12. Dezember 2021 veröffentlicht. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink. 2 Kommentare

2 Gedanken zu „Auch in meinem Staat

  1. Die detailliert abgestufte Zuordnung von Schuld zu Strafe ist bereits heute Gegenstand der Rechtslehre. Mehr siehe Fischer im Recht.

    Das kann man Äquivalenz nennen – ich tu es nicht. Der Begriff passt eher zu Geldwert des angerichteten Schadens bzw. zum Preis von dessen Wiedergutmachung. Was etwa bei Mord schlecht geht, aber auch nicht im Trivialfall, dass dieser das Vermögen des Untäters überschreitet.

    Eine definierte Relation Untat X1 ⇒ Strafe Y1 ist eine Zuordnung abseits Äquivalenzkalküls und sehr wohl vergleichbar mit dem Racheprinzip „Auge um Auge, Zahn um Zahn“ (das zu Zeiten seiner Einführung übrigens fortschrittlich war, denn diese Regel schloss eine Eskalation aus, die zu der Zeit gang und gäbe war.) Und – zur Wiederholung – Stand heute.

Schreibe einen Kommentar zu Wolf-Dieter Busch Antworten abbrechen