Kontrafaktur

Unser Hofpoet Martin Jürgens seziert einen Hausdichter der Deutschen

Die Aschanti
(Jardin d’Acclimatation)


Keine Vision von fremden Ländern,
kein Gefühl von braunen Frauen, die
tanzen aus den fallenden Gewändern.


Keine wilde fremde Melodie.
Keine Lieder, die vom Blute stammten,
und kein Blut, das aus den Tiefen schrie.


Keine braunen Mädchen, die sich samten
breiteten in Tropenmüdigkeit;

keine Augen, die wie Waffen flammten,


und die Munde zum Gelächter breit.
Und ein wunderliches Sich-verstehen
mit der hellen Menschen Eitelkeit.


Und mir war so bange hinzusehen.


O wie sind die Tiere so viel treuer,
die in Gittern auf und niedergehn,
ohne Eintracht mit dem Treiben neuer
fremder Dinge, die sie nicht verstehn;
und sie brennen wie ein stilles Feuer
leise aus und sinken in sich ein,
teilnahmslos dem neuen Abenteuer
und mit ihrem großen Blut allein.

Rainer Maria Rilke 1902/03


Die Aschanti, Rilke und die Tiere


Das Fremde und das Wilde will er möglichst
Pur, der schmale Mann mit Schnäuz,
Und Liebling vieler Damen.
Er sucht es hinter Maschendraht im
Menschenzoo bei den Aschanti,
Und wird arg enttäuscht.

(1902)


Der Tiere Treue zu sich selbst
Und „ihrem großen Blut“: Die ist ihm
Lieb & wert, auch wenn da hinter Gittern
Teilnahmslos gelitten wird.


Sein großer Atem starker Bilder, bis hin zu
„Augen, die wie Waffen flammten“,
Geht über jedes Elend mühelos
Hinweg – so wie die satte
Gabe eines Gleitgels
Jeden Schmerz vermeiden
Hilft und sich ganz leis
Mit jeder wunden Öffnung eines
Jeden Körpers – Endreim
Komm her!
– sanft zu
Befreunden weiß.

Martin Jürgens


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Dieser Beitrag wurde am 18. August 2022 veröffentlicht. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.