Archiv | März 2020

Mein Staat II

Wäre mein Staat dafür zuständig, dass er nicht an der Spanischen Grippe stirbt? Der Träumerei zweiter Teil, mit eingebautem Update. Von unserer Gastprinzessin Ilse Bindseil

♕ 1 Mein Staat ist kein Sozialstaat. Er ist kein fürsorglicher Staat. Er ist kein Beschwichtigungsstaat. Er verweigert die Kohabitation oder Symbiose mit Aufgaben, die definitiv nicht polizeilich, sondern fürsorglicher Natur sind. Vor die Alternative, Polizei oder Fürsorge, gestellt, entscheidet er sich für die Polizei. Na gut, sagt er, dann bin ich eben ein Polizeistaat. Aus der Geschichte weiß er, dass das Zusammengehen von Polizei und Fürsorge der Anfang oder die Grundlage des Faschismus ist. Faschismus, weiß er, ist Polizei plus Fürsorge, damit fängt es an. Oder: So hört es nie auf. In dieser Verklammerung ist der Faschismus immer eine Option. Er ist immer gegenwärtig. Er ist immer das, was beschwichtigt werden muss.* Wenn der Staat es ernst meint mit der Konstruktion eines nicht faschistischen Staats, muss er darauf also verzichten. Auch wenn er dann mit leeren Händen dasteht. Dieses Gefühl, mit leeren Händen dazustehen, ist sozusagen das Kriterium eines nicht faschistischen Staats.

*Als beschwichtigendes Fernsehen hat ein Kommentator das deutsche bezeichnet und damit punktgenau die Kalamität getroffen.

2 Mein Staat weiß, wenn er nicht über sich nachdenkt, dann tut es keiner. Seine Geschichte nimmt er ernst, er hat sich mit ihr befasst, nicht als Anhängsel und Ausdruck von allem Möglichen, sondern als die Geschichte, die von ihm handelt, in der erkennbar wird, was es mit ihm auf sich hat. Prompt wirkt er kleiner. Nicht mehr so aufgebläht. Nicht mehr so verbacken. Nicht mehr so natürlich. Nicht mehr so persönlich. Nicht mehr so – dinglich. Kaum mehr scheint er als eine Form.

Jeder, der über den Staat nachzudenken meint, macht ihn ja zum Spiegel seiner eigenen Bedürfnisse, schreibt ihm dies und jenes zu, erhöht ihn im Maßstab seines Größenwahns und saugt aus der Schwierigkeit, ihn zu beschreiben, noch den Honig der allerhöchsten Unbegründbarkeit und Souveränität. Zeit, dass der Staat dieser Fremdbestimmung eine Schranke setzt. Er tut das, indem er sich selbst bestimmt. Sich selbst bestimmen heißt, alles das aus sich herausschneiden, was man nicht ist. Es heißt nicht, zu sagen, was man ist, sondern was man nicht ist. Damit ist dem Bedürfnis der Ideologen, den Staat zu bestimmen, eine wirksame Schranke gesetzt. Auch das Staatsvolk unterscheidet höchstens zwischen Gut und Böse, kapiert nicht, warum er sich der guten Eigenschaften, wenn es sie ihm zuschreibt, genauso erwehrt wie der schlechten. Sobald es um das Nicht geht, klappt es die Ohren zu, sagt ratlos: Was will er? Das oder das? Ist er vielleicht der Allerhöchste, der über den Eigenschaften thront? Nein, auch das ist er nicht. Wäre er der Allerhöchste, hätte er noch mehr Mühe: aus sich herauszuschneiden, was das Allerhöchste ist. Deshalb ist er glücklich, wenn es eine Nummer kleiner geht und er nur das Paternalistische aus sich herausschneiden muss, das Zugewandte, das jedem ansteht, der mit Menschen zu tun hat, sofern er ein Mensch ist, aber er ist ja ein Staat. Er kommt damit seiner Selbstbestimmung nicht nur näher – obwohl, wer weiß, wo das endet −, viel unmittelbarer ist der Effekt, dass das Nicht, dass jedes seiner Selbstzuschreibungen, wie die Philosophen sagen, „begleiten können muss“, sich wie eine Membran um ihn herum legt, so dass die Verehrung, auch die beständige Forderung nicht andocken kann. Wie willst du zu jemandem erfolgreich ja sagen, wenn er beständig nicht sagt. Nicht nein, wohlgemerkt, das ginge ja noch an, sondern nicht. Sogar das Volk wendet sich schließlich von ihm ab. Hört auf zu lamentieren und macht sein eigenes Ding.

♕ 3 In meinem Staat geht das große Gesellschaftsspiel zu Ende, das da lautete: Was bekommen wir vom Staat? Wie werden wir versorgt? Was ist er uns schuldig? Was enthält er uns vor? Warum tut er nichts für uns, warum sieht er uns nicht! Es war ein seltsames Gesellschaftsspiel, das Rechte und Linke einte, denn auch die Linke wendete sich an den Staat, fordernd und vorwurfsvoll, vorzugsweise im Irrealis, denn dieser Modus galt ihr ja für links. Er gibt nicht, sagte sie anklagend, aber er müsste. Er müsste, aber er tut’s nicht! In meinem Staat kann man studieren, worüber die Linke redet, wenn sie nicht mehr sagen kann: Der Staat hat wieder nicht. Wie sie kommuniziert, wenn sie nicht mehr in diesem seltsamen Dreieck agiert: sie, der Staat und die Leute. Sondern ohne einen Dritten, den sie als Gegner präsentieren kann, aber als Verstärkung  im Auge hat. Der für alles zuständig ist, aber noch das Mindeste versäumt, dem man dies Mindeste also vorwerfen kann. Gibt es dies Mindeste nicht, müsste man sich statt seiner mit dem Größten beschäftigen, aber womit, wenn nicht mit dem Staat? Mit der Gesellschaft, der Wirtschaft, dem Leben? Verzeiht, dass ich schmunzele. Wirtschaft klingt ja, als wollte man einen heben gehen. Ökonomie hat sich im Elfenbeinturm der Wissenschaft verbarrikadiert. Gesellschaft? Ein Schimpfwort für die Soziologen, die sich etwas zurechtgemacht haben, einen Zombie für die Zombies. Leben? Hat’s auf allen Ebenen verspielt. Ungleich angenehmer ist die Rede vom Staat als dem großen Übersetzer des Wirklichen ins Politische,  ins Symbolische. Was ist das Symbolische? Ein Raum, wo man sich verhalten kann, wo man sich unterhalten kann. Eine Sphäre, in der sich wunderbarer Weise immer ein Spielraum auftut, ein Verhandlungsgegenstand sich anbietet, eine Kommunikationssituation genutzt werden will. Der Staat tritt dem Volk als Partner gegenüber. Wir und der Staat, sagt das Volk, das sind zwei gegen den Rest der Welt.

4 Mein Staat ist nicht der Statthalter des Politischen. Ich sagte es bereits: wenn, dann der Statthalter des Polizeilichen. Soll ich zuerst sagen, worin das Polizeiliche besteht oder was für meinen Staat die größte Herausforderung ist? Wer ein ernsthafter Konkurrent ist, wollt ihr das zuerst hören?

Der ernsthafte Konkurrent kommt als siamesischer Zwilling daher: Es sind dies der bürgerliche Staat, der sich auf seine demokratischen Werte rückbesinnt, und der autoritäre Staat, der sie überwindet. Kurz, es ist der bürgerliche Staat, der einen Schritt zurück und der autoritäre, der einen Schritt vorwärts macht, beide in Übereinstimmung mit dem Schritt des jeweils anderen, so dass man auch sagen kann: Der ernsthafteste Konkurrent meines Staates ist die Krise. Sie lässt das Bild eines Staates entstehen, der sich sei’s auf seine Werte, sei’s auf seine Stärke besinnt und in dieser Konstellation den Eindruck vermittelt, sich selbst im Blick und das Land im Griff zu haben, entweder den Staat sans phrase oder den Staat als Phrase. 

Was hat der Staat, dass ich ihn verteidigen mag? Diese Frage bewegt den nachdenklichen Bürger. Sie produziert die Inbrunst, die meinen Staat blass aussehen ließe, gälte sie nicht bloß für die Krise. Aber sie wächst mit ihr und schwindet mit ihr. In der Krise entsteht das Schattenbild eines Staates, der wie eine Verkörperung der aristotelischen Mitte ist, wo nicht der Superlativ gilt, sondern der Elativ. Elativ? Das, was sich nicht steigern lässt, was das Größte ist, wenn man es denn erreicht, aber man kann sich ihm nur annähern. Großmut und Großzügigkeit, Selbstbeherrschung und Selbstlosigkeit, Mut. Aristokratische Werte allzumal, geben wir es doch zu. Eine Quadratur des Kreises, wenn der Bürger sie zu seinen erklärt. Ein Schattenbild, wie gesagt, bei dem die Krise dem Piefigen Flügel verleiht.

Was fehlt dem Staat zum Staat? fragt die autoritäre Rhetorik. Ein Anführer, jemand, der sich traut. Der die Sache übernimmt, so dass  ich mich einklinken oder ausklinken kann. Dass ich ebenso gut sagen kann „Ich und mein Staat“ und „Die da oben. Sollen sie doch machen.“ Es ist ja alles da: die großen Worte, die Werte. Nur die Traute fehlt. 

Meinem Staat fehlt alles, bloß stark ist er. Jeden Annäherungsversuch, jeden Anbiederungsversuch wehrt er ab. Lässt es gar nicht erst zu, dass sich Übernahmefantasien an ihn heften. Hier gibt’s nichts zu übernehmen, bedeutet er den Interessenten.

♕ 5 Mein Staat, wenn er sich mit sich selbst beschäftigt, schickt nicht in Gedanken Truppen an die Grenze oder lässt Tiefflieger über seine Weizenfelder donnern. Nein, er beschäftigt sich mit sich wie ein Bürger, der nach des Tages Mühe durchs Fernsehen zappt, die sozialen Kontakte prüft und einen Blick aufs Dating-Portal wirft, einen entspannten, wohlgemerkt, keinen verkrampften. Gelegentlich, wenn mein Staat  mal nicht mit Abwehren und Ausmisten zugange ist, wirft er einen neugierigen Blick auf jene andere Welt, in der es Dinge gibt, von denen er nur träumen kann. Wie gesagt, er träumt nicht von Armeen, Grenzzäunen, hoch wie der Eiffelturm, er träumt sich ins normale Leben hinein. Zivil, träumt er, hat das mit mir zu tun? Bürgersprechstunde, nur mal als Beispiel, wär das was? Aber wer spricht und wer hört zu?

Weiß nicht, sagt mein Staat und denkt an was Einfacheres. Verwaltung, denkt er. Bin das ich?  Ist das ein Staat ohne Staat? Sachlichkeit pur: faszinierend. Allein schon die Idee bringt Hasser und Verehrer hervor. Aber die Verwaltung ist die Sache der Verwaltung. Meine Sache, denkt mein Staat, ist der Staat. Wollen doch nichts durcheinander bringen. Wenn jeder sich zurückzieht aus dem Gebiet, auf dem er nichts zu suchen hat, dann kann das Freigeräumte einen freien Blick auf sich werfen. Mal sehen, was dabei herauskommt. Gewiss nichts, was mit dem Staat zu tun hat: the less you put in the less you get out, zu Deutsch: was du nicht reingetan hast, kann auch nicht rauskommen. Der Staat mag es bedauern, wenn das Feld, das er geräumt hat, sich nun ohne ihn entwickelt. Verwaltung, denkt er, das wär wie ein Puzzle mit 15 000 Teilchen. Samt Unterlage zum Zusammenrollen und Fixierer.

Mein Staat sehnsüchtelt vielleicht ein bisschen, aber er verliert sich nicht. Wenn es ganz kritisch wird, gerät er ins Träumen, wer träumt, der sündigt nicht. Immer wieder kommt er auf die Verwaltung, was hat er nur mit der? Um mal ein Beispiel zu nehmen, Max Weber, der war für die Verwaltung zuständig, will sagen, er hatte es drauf. Wäre mein Staat dafür zuständig, dass er nicht an der Spanischen Grippe stirbt? Hätte Max Weber über die Verwaltung nachgedacht und mein Staat ihn gerettet? Mit jener Mixtur aus Verwaltungs- und polizeilichen Maßnahmen, für die ein Staat wie geschaffen ist? Wie geschaffen für die Spanne zwischen Verwaltung und Krankheit?

Ich nicht, denkt mein Staat und hält sich die Ohren zu. Weder hätte ich ihn gerettet noch bin ich dafür geschaffen. Erbittert tönt es von allen Seiten, dass man es schon ein Ohrgeräusch nennen kann. Ist aber nur das Rauschen, nein, nicht des Blätterwalds, auch nicht – sic! − des Seins, sondern der Leere, die sich bemerkbar macht, wenn man einmal nicht das denkt, was man immer denkt.

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Kant oder Sex

Macht hat in den heutigen Debatten den skandalösen Status von etwas, was nicht erklärt werden muss, und Sexualität – überhaupt keinen Status. Da ist unserer Gastprinzessin Ilse Bindseil der alte Trieb lieber

 

Kant fällt mir ein. Wenn er die Ehe als eine vertragliche Übereinkunft zum wechselseitigen Gebrauch der Geschlechtswerkzeuge beschrieb, so diskreditierte er sich damit bei allen fühlenden Menschen – so nannte man sie in der hohen Zeit der Literatur −, die sei’s von der Ehe, sei‘s vom Sex mehr erwarteten als das, was ein trockener Vertrag oder ein sachlicher Gebrauch zu bieten haben.

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Dieser Eintrag wurde am 17. März 2020 veröffentlicht. 1 Kommentar