Kontrafakturen (2)

Hofpoet Martin Jürgens seziert weiter einen Hausdichter der Deutschen

Herbsttag

Herr: es ist Zeit. Der Sommer war sehr groß.
Leg deinen Schatten auf die Sonnenuhren,
und auf den Fluren laß die Winde los.

Befiehl den letzten Früchten voll zu sein;
gib ihnen noch zwei südlichere Tage,
dränge sie zur Vollendung hin und jage
die letzte Süße in den schweren Wein.

Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr.
Wer jetzt allein ist, wird es lange bleiben,
wird wachen, lesen, lange Briefe schreiben
und wird in den Alleen hin und her
unruhig wandern, wenn die Blätter treiben.

Rainer Maria Rilke 1902


Rilkes Herbsttag, revisited

Herr, es war Zeit:

An diesem Herbsttag

Hast Du, Herr des Himmels,

Deinen Herrn gefunden –

Den Dichter-Gott himself

Und wirst von ihm trotz eines

Supersommers, ächt «sehr

Gross», harsch angeherrscht:

Mach dunkel, lüfte kräftig durch,

Und mach den Früchten Beine!

Vollendung pronto, bitte sehr!

Und süße schwere Weine!

Bauwillige sind chancenlos ab

Jetzt und Einsame arm dran:

Sie wachen, lesen, schreiben

Lang an ihren Briefen und

Laufen draußen rum, unruhig,

«wenn die Blätter treiben»,

Von hier nach da, von da 

Nach hier, piano oder forte –

Wie bei Verlaine, der sich 

mit totem Laub verglich: 

«pareil à la feuille morte».

Ach ja, der Wohlklang tut

Dem Menschen gut, dem Wicht,

Doch zu viel Schönheitswille,

Gepaart mit Herrschsucht über

Die Natur im Herbst, bekommt

Auf Dauer nicht.

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Dieser Beitrag wurde am 9. Oktober 2022 veröffentlicht. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.