Von Gastprinzessin de Havilland
(Pseudonym)
„Neonazis gibt es in jedem Ort“ – Jürgen Opitz (BM Heidenau)
„Unser Ruf ist im Eimer“ – Michael Kretschmer (MdB Sachsen (CDU))
Jetzt erst?
Wahrscheinlich hätten mich in den 90er-Jahren keine zehn Pferde nach Heidenau oder gar Pirna gebracht. Dörfer in Sachsen, auf dem Weg nach Tschechien zum Beispiel, die man schnell und am besten im Auto hinter sich lässt. Zuhause in Leipzig Grünau war es nämlich nicht viel anders, zumindest dann, wenn man sich nicht dem uniformen Dress der sehr national gesinnten Jugendlichen anpasste. Und diese Erfahrung reichte völlig. Das Leipzig nämlich, welches heute vor Selbstbewusstsein strotzt, dass bei einem polemischen geforderten #saexit vorher noch den #lexit will, auf das man heute aus Dresden vielleicht etwas neidisch schaut, ist und war kein Vorzeigehort der Toleranz und Weltoffenheit, auch wenn diverse Marketingkampagnen das anders sehen verkaufen wollen.
Ein Sommer in Grünau im Jahr 1998, ich war damals 15. Zwei Jahre zuvor wurde das große Einkaufscenter, das Allee-Center eröffnet. Endlich musste man nicht mehr 30 Minuten in die Innenstadt tuckern, hieß es oder irgendwo auf der grünen Wiese einen Parkplatz suchen. Wie auch immer, jedenfalls war es wie so oft gut besucht. Es ist 17 Uhr, es ist Ende August, draußen ist es hell und mein Freund und ich stehen in einem Laden im Allee-Center. Während wir drinnen Aufnäher und T-Shirts mit durchgestrichenen Hakenkreuzen, Bad-Religion Motiven und ähnliches in Augenschein nehmen, versammeln sich vorm Eingang eine Handvoll Jugendliche. Vielleicht 16, 17, 18 Jahre alt, so in der Drehe. Faschos. Während mein damaliger Mitschüler weiter das Angebot überprüft, steigt in mir leichte Panik auf. Die Nazis vorm Eingang sprechen uns an, wann wir denn rauskämen, sie könnten auch auf uns unten warten und warum wir so aussähen wir eben aussahen. Lange Haare, Iro, Bundeswehrrucksack, Aufnäher, sowas eben. Ich frage die Verkäuferin, ob es einen zweiten Ausgang gäbe, fest davon ausgehend, dass das hier kein gutes Ende nehmen wird. Wieder Mal. Draußen ist eine Art Feuertreppe, wären wir schnell genug, dann könnte man vielleicht… Aber nein, die Tür ist versperrt und ich würde übertreiben und auch mein Freund mag sich der Gefahreneinschätzung nicht so recht anschließen. Er wohnt nicht in Grünau, wir teilen nur die Schule am Rande des Viertels. Fünf Minuten später ist die Gruppe weg, er sagt: „Siehste! Alles halb so schlimm.“ Wir verlassen den Laden. Meine Panik ist unverändert da. Wir gehen, recht schnell, Richtung Hauptausgang, dort sind immer die meisten Menschen und irgendwo da sind auch unsere Fahrräder. Wir verlassen das Allee-Center, betreten die Brücke, die die S-Bahn Gleise überquert, da zieht eine Hand an meinen Rucksack mich zurück. Ich stolpere, die Panik ist nun da, die sechs Faschos stehen um uns rum. Wir wollen kurz noch losrennen, über den Fahrradaufgang runter zu den Gleisen, da kommen auch von dort 2 weitere. Wir sind eingekesselt.
Ein Typ nimmt mich in den Schwitzkasten, ich soll zusehen wie mein Schulfreund zusammengeschlagen wird. Sie stoßen ihn auf den Boden, treten ein paar mal auf ihn ein, er stöhnt. Währenddessen laufen an uns Dutzende einkaufende Menschen vorbei.
Eine Frau in den Vierzigern bleibt stehen und schreit die Nazis an, schreit die Passanten an, dass hier alle wegschauen – das könne nicht sein, die Faschos schubsen sie weg und rufen, sie solle sich um ihre Sachen kümmern. Ich versuche mich loszureißen, es klappt nicht, sie schlagen mir die Brille vom Gesicht, er bekommt einen letzten Tritt und sie hauen ab, Richtung Schönauer Ring. Die Frau kommt wieder zu uns, hilft meinem Freund hoch, fragt, ob sie einen Krankenwagen rufen soll. Er sagt nein, er ist das gewohnt, es fühlt sich nicht schlimmer an als sonst. Aber ich will zur Polizei, eine Anzeige aufgeben, vor Allem er soll das tun. Er sagt das bringt nichts, da kommt nie was raus und am Ende haben sie seine Adresse aus der Akte. Ich überrede ihn trotzdem, wir fahren mit dem Fahrrad Richtung Ratzelstraße. Dort im Polizeirevier soll es einen Beamten der neu errichteten Soko Rex geben, er soll engagiert sein. Er zeigt uns diverse Fotos bekannter Grünauer Schläger. „Unsere“ sind nicht dabei, es kommen eben immer Neue.
Später sollten wir erfahren, dass soetwas am Allee Center mitunter mehrmals die Woche passiert.
Er sagt, dass Anzeigen wichtig sind. Er weiß von verschiedenen Nazis in Grünau und was sie alles tun – solange die Opfer sie nicht anzeigen, können sie aber nichts machen.
„Keine Macht den Zecken“ – Motto eines Naziaufmarsches 1998 in Grünau
Das Revier ist im sogenannten WK (Wohnkomplex) 8. In Laufweite zum Kulkwitzer See. Grünau wirkt manchmal gar nicht wie ein Teil von Leipzig, sondern eher wie ein Dorf. Die Bewohner schätzen die Nähe zu Kulkwitz, wer ein Auto hat nimmt die Ferne zur Innenstadt sowieso anders wahr.
Am See waren wir auch oft. Mit Kassettenrecorder, Getränken, Gummiboot und abwechselnden Wachschichten. Da man am Ufer nicht mehr wirklich gut die Zufahrtswege einsehen konnte, war immer irgendwo irgendjemand unterwegs, zu schauen ob die Nazis von der anderen Seite sich auf den Weg gemacht haben. Dann hieß es Fersengeld geben oder in die Pedale zu treten. Wir waren nie wirklich genug, um ihnen was entgegenzusetzen. Die Polizei war zu langsam, Handys noch eine Ausnahme und die meisten Antifas wohnten außerhalb Grünaus. Weit außerhalb. Jedenfalls klappte auch das nicht immer und wenn die Nazis mit Baselballschlägern und Gaspistolen anrückten, war es sowieso zu spät. Und Gaspistolen waren nicht nur einmal mit im Spiel.
Von der Schule nach Hause, eigentlich ein Fußweg von 20 Minuten, ging es auch immer mit dem Rad. Wenn das Rad kaputt war, versuchte man sich wenigstens gemeinsam zu verabreden, zusammen den Weg zu gehen. Wenn das Fahrrad geklaut war, versauerte man fast zu Hause. Zwischen dem WK7 und dem WK8 gab es auch eine S-Bahn Brücke.
An einem Tag fuhr vor mir eine Mitschülerin, auch sie eine Bewohnerin des WK8, auch sie auf dem Weg zur Brücke, den Fahrradweg ansteuernd . Uns beide verband nicht viel, außer fragliche Frisuren, die in Grünau unter Jugendlichen eben gleichbedeutend mit einer Zielscheibe waren. Ich fuhr weniger Meter hinter ihr, die Fahrradauffahrt war eher schwierig nebeneinander zu schaffen und realisierte schon vor Erreichen des „Gipfels“, dass sich dort auf der Brücke, in der Mitte, einige Jugendliche befanden, die diese andere Frisur pflegten. Also vornehmlich diese rasierten oder nur trocken scherten, wenn es nicht ganz so krass sein sollte. Im Prinzip der Zeitpunkt um umzukehren, aber die Zeit, die man braucht um ein Fahrrad zu wenden, ist genug für die um loszurennen. Also mussten die nicht rennen sondern einfach aufstehen, sich erheben, ihre Bierflasche zur Seite schieben und wie sie nun mit ihrem Fahrrad vor mir an ihnen als erstes vorbeikam, schleuderte der eine eine Metallkette in ihr Vorderrad. Es kam was kommen musste. Die Kette verhedderte sich in den Speichern und beim nächsten Umlauf schlug diese an die Gabel und und sie stürzte vom Rad. Ich hielt an, die Nazis johlten, nur schnell wieder aufs Rad und weg von hier. Solange es hell war, hatten sie nie Recht Lust einen zu verfolgen. Das passierte eher nach Einbruch der Dunkelheit. Dann änderte man seine Wege wieder, man wusste ja, wo welcher Nazischläger wohnte. Längst hatte ich unterbewusst eine Art Notfallstrategie entwickelt. Dazu zählte, dass ich 1996 schon ein Handy hatte, man Straßen und Plätze immer automatisch nach Seitenpfaden und Fluchtwegen absuchte und besonders Nachts jedes Grölen und Schreien als Gefahrenanzeiger wahrnahm und sei es auch noch so weit weg. Vieles davon wird man nicht mehr los und werden als Automatismen noch heute abgespult.
Irgendwann begann man sich wöchentlich zu treffen. Als Antifagruppe, die vor Allem die Vorkommnisse der letzten sieben Tage austauschte und protokollierte. Es gab immer was zu berichten. Eine Wohnungsgenossenschaft stellte ein Büro zur Verfügung, in der Nähe des besagten Allee Centers, gegenüber eine Tankstelle. Dort trafen sich allabendlich Nazis um Bier zu trinken und davor ein Straßenbahnbett: Schotter. Sie bekamen natürlich heraus, das und was dort jede Woche ablief. Teilweise verbarrikadierten wir uns, die Fenster wurden eingeschmissen, sie warteten auf uns, dass wir nach Hause gingen. Als sich das mehr und mehr zuspitzte, begann die Polizei dort zu patroullieren. Und nicht nur das: Mehrere Wochen lang wurden wir, vor allem die, die ins WK8 mussten, mit Polizeischutz nach Hause eskortiert. Wir auf dem Fahrrad auf dem Radweg, parallel auf der Straße ein Streifenwagen. Auf der anderen Seite die Nazis, die wieder johlten, stolz auf den Polizeischutz, den sie nötig gemacht hatten.
„Durch die Dominanz rechtsorientierter Jugendlicher im Stadtteil Grünau können derzeit Wanderungsbewegungen andersdenkender bzw. andersaussehender junger Menschen in andere Stadtteile beobachtet werden (…) Sie haben begründete Angst um ihre körperliche Unversehrtheit“
(Jugendhilfeausschuss Leipzig – zitiert in Süddeutsche Zeitung, 22.3.1999)
Das bedeute auch umgedreht, wollte ich Grünau verlassen und das nach Einbruch der Dunkelheit, ließ ich mich von Freunden, die außerhalb wohnten (oder eben in Leipzig, je nach Perspektive) mit dem Rad abholen. Alles war besser als das Viertel einmal komplett alleine zu durchqueren.
National befreite Zonen nannte man das. Und Grünau sollte so eine werden oder war es schon längst. Nach der Wende hatten hier diverse rechte Parteien den Boden betreten und den Kampf um die Köpfe in den Jugendclubs als Parole ausgegeben. Allen voran die Jugendorganisation der NPD, die JN. Und ohne Frage, das erfolgreich. Das Kirschberghaus wurde zum Synonym für akzeptierende Jugendarbeit und zur No-Go Area für uns. Die CDU war schon damals ein Freund der, sagen wir, klaren Worte:
„Die Jugendlichen vom Treff 2 sind ein Stück Grünau“ sagte Volker Schimpff damals in einer Pressemitteilung. Und während Nazis dort weiterhin ein- und ausgingen, stellte der sächsische Verfassungsschutz zu uns fest: „eine Gruppe bei deren Mitgliedern es sich (…) um linksextremistische Autonome handelt“. Danke für nichts.
Klar gab es auch mal kritische Stimmen, gefühlt einzelne, etwa als Thierse seine „Ostdeutschlandtour“ in Grünau begann, im Dezember 1999, das war wenige Tage nachdem zwei alternative Jugendliche mit Benzin übergossen und angezündet wurden. Oder direkt vor Ort, vor allem durch eine damalige junge Stadträtin der PDS, Juliane Nagel und einigen SozialarbeiterInnen, meistens nicht aus Grünau. Was wir eigentlich wollten war ein eigener Jugendclub, einen Rückzugsort. Die Alternative war eben der Wegzug. Dafür besetzten wir auch zeitweise das Büro des damaligen Jugenddezernenten Burkhard Jung im Rathaus. Es sollten noch über 5 Jahre ins Land gehen, bis andere, nun dort lebende Jugendliche die „Bunte Platte“ am Kulkwitzer See eröffneten. Wegen anhaltender neonazistischer Übergriffe, wurde diese vom Eigentümer 2007 schon wieder gekündigt.
Da war ich, da waren wir, aber schon längst weg.
Irgendwann im Verlauf des Jahres 2000, als – für Grünauer Verhältnisse – eine große antifaschistische Demo – „Wir wollen kein Teil einer Nazibewegung sein!“ – stattfand, klingelten Nazis in unserem Aufgang des Neubaublocks. Welcher zu der Zeit schon lange Zeit eine riesige Baustelle war, da die Sanierungsarbeiten, die damals gerade überall begannen, von einer nun insolventen Baufirma durchgeführt werden sollten.
Sie warteten eine Weile vor der Haustür, mehrmals und fragten irgendwann einen Nachbarn, ob und wo ich in diesem Haus wohnte. Und er antwortete. Sie hätten so nett gewirkt.
Wenige Wochen später zogen wir in eine Altbauwohnung in einem anderen Stadtteil Leipzigs.