Die Stones und ich

Aus dem Familienalbum unseres Gastprinzen Harald Justin

Fotos: Harald Justin

Die Rolling Stones gehörten immer schon zu meiner Familie. Oder ich zu ihrer. Ich erklärte mich zu ihrem Familienmitglied, ohne ihr Wissen, bin mit ihnen aufgewachsen, so wie mit der Sonne, dem Mond und den Sternen. Sie waren immer da, die bessere Familie. Vom wem sonst sollte man in den 60er Jahren juvenilen Tugendterror erlernen? Den ersten hysterischen Kreischalarm übte ich 1965 ein, als mir die anderen Erziehungsberechtigten den Besuch des Rolling Stones Konzerts in der Essener Gruga-Halle untersagten.

Opferbereitschaft erprobte ich 1973, als ich meine damalige Freundin während ihres zweistündigen Konzertes auf den Schultern trug. Danach hatte ich Rücken. 1976 schlug ich mir eine Stunde vor dem Kölner Konzert einen Vorderzahn ’raus, 1982 schluckte ich beim Baden im See vor dem Konzert in Hannover einen Magendarmvirus und litt. Alles, was ich über die Verletzbarkeit des Körpers wissen musste, hatte ich dank Mick und Keith verinnerlicht. Auch gewisse Charakterstärken gaben sie mir mit auf den Weg. Etwa das Geldausgeben für Konzerttickets, Fan-Artikel und den gewissen Rock ’n’ Roll-Lifestyle.

Eine weitere Lektion in Sachen Charakterbildung gab es 1995, als die Zeitschrift, für die ich arbeitete, die Einladung zu einem Fototermin mit den Stones anlässlich ihres bevorstehenden Köln-Konzerts erhielt. Natürlich sagte ich zu, obwohl ich kein Fotograf und ohne Kamera war. In Köln lernte ich dann die ebenfalls herbeigeeilten, wahren Meister der Zunft kennen. Ihre Jackentaschen waren prall gefüllt mit Filmrollen, sie waren ausgestattet mit Stativen, mehreren, salopp getragen Kameras mit langen, langen Objektiven und behängt mit schweren Kamerataschen. Wir alle wurden mit dem Bus aufs Rollfeld gekarrt, wir nahmen hinter einer Absperrung Platz, sie, die Profis und ich mit einer Pocketkamera, die ich mir am Abend vorher von der 11-jährigen Tochter einer Freundin ausgeliehen hatte.

Es war ein denkwürdiger Moment, als nach mehrstündiger Verspätung erst Mick Jagger, dann Keith Richards Arm in Arm mit Ron Wood aus dem Flieger tänzelten, sekundenlang vor uns posierten und dann in ihre Limousinen stiegen, um ins Hotel zu entschwinden. 50 Meisterfotografen ließen es klicken, die Objektive surrten zu beträchtlicher Größe heran. Während die Profis ihre Filmrollen wie Gunmen ihre Magazine wechselten, drückte ich tapfer auf den Auslöser meines Winzlings, mitleidig beäugt von Männern, die besser ausgestattet waren. Harhar. Zugegeben, für die seriöse Fotokritik taugen meine unscharfen Fotos nicht, aber fürs Familienalbum reicht es. Was an Schärfe und Detailgenauigkeit fehlt, macht das Wunschdenken wett. So kann ich es den Kindern erzählen. Von der Lektion Demut, die ich erhielt, von der Portion Selbstironie, die es braucht, um Peinlichkeiten die Stirn zu bieten. Man kann, wie es meine Familienmitglieder sangen, eben nicht immer alles bekommen, was man will. Aber irgendwann bekommt man, was man braucht.

Dieser Beitrag wurde am 14. Mai 2020 veröffentlicht. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink. 1 Kommentar

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