Zurückverlegen

Eine Fantasie zur Begrüßung des neuen Jahres. Von unserer Gastprinzessin Ilse Bindseil

Gegen die Wohnungsnot in der prosperierenden Hauptstadt schlug eine Freundin von mir einmal vor, jegliches Gewerbe, meist Praxen und Kanzleien, die sich in den Altbauten über dem Erdgeschoss eingenistet hatten, kurzerhand ins Parterre zurückzuverlegen. Denn da gehören sie hin, sagte sie, und ich staunte wie so oft über die für sie charakteristische Mischung aus Pragmatismus und Rechthaberei. Was man auf diese Weise an Wohnraum gewinne, ergänzte sie, das wäre eine ordentliche Menge. 

Der Vorschlag ist mir im Kopf geblieben und wenn ich durch die Straßen ausgewiesener Wohnviertel mit dem Altbaubestand der Berliner Gründerjahre gehe, dann sehe ich mir das Erdgeschoss genauer an. Je stiller die Straße, desto weniger profitabel ist es vermietet. Nicht zufällig stand es den Berliner Kinderläden seinerzeit für einen Appel und ein Ei zur Verfügung oder wurde zum Wohnen genutzt, auch wenn es über einen Geschäftsraum mit Schaufenster verfügte. Heute scheint mir seine Verwendung typisch für den Zustand einer Gesellschaft, die vom Direkten ins Indirekte geraten ist, vom Helfen ins Nachhelfen, vom Machen, denke ich böse, ins Wiedergutmachen. Der detaillierten Angebote gibt es unzählige, die, Beispiel Hausaufgabenhilfe, die Ausbildung, Beispiel Physiotherapie die Gesundheit, Beispiel Schuldner- oder Mieterberatung, die soziale Tüchtigkeit fördern. 

Ich versuche mir vorzustellen, was hinter den oft fantasievollen Namen steckt. Den Vogel schießt „Leben lernen“ ab, ein Verein, denke ich, der Leuten, denen das schwerfällt, eben dabei hilft, zu leben. Ein großes Projekt, denke ich, aber unwillkürlich auch: zu groß für ein Erdgeschoss. Meine Freude habe ich dagegen an den zahllosen sozialpsychiatrischen Anlaufstellen, die ich als Beweis für den Erfolg der Antipsychiatrie damals, in den Jahren der antiautoritären Bewegung, deute. Alles unterwandert, stelle ich mit Behagen fest. Die Irren sind zurückgekommen. Wenn die Normalität durchlöchert ist wie ein Schweizer Käse, dann kommt sie dem, was ich mir unter ihr vorstelle, nahe.

So wie meine Freundin aufheben wollte, was sie, alles andere als revolutionär gesonnen, als Zweckentfremdung empfand, so möchte auch ich den Normalzustand wiederherstellen. In meinen Fantasien beschäftige ich mich mit dem Zurückverlegen. In die pädagogischen Institutionen, die mir vertraut sind, und in die übrigen Einrichtungen der gesellschaftlichen sogenannten Grundversorgung gliedere ich die Hilfen, die aus ihnen ausgegliedert wurden, wieder ein. Das bewirkt ein Kommen und Gehen in den stillen Straßen. Ich sehe sie vor mir, wie sie aus der Tür neben dem diskret verhängten Schaufenster heraustreten, sie alle, die sich aus dem stinknormalen Reproduktionsprozess ausgeklinkt oder in ihm keinen Ort gefunden haben, und sorgfältig abschließen. Denn sie kommen ja nicht wieder. Sie gehen zurück in die Kitas und Schulen, in die Krankenhäuser und Pflegeheime, in die Arbeits- und Freizeitstätten, wo sie mit ihrer Tüchtigkeit und schieren Zahl dazu beitragen, dass die Verlagerung des normalen Krisenzustands einer unsortierten Gesellschaft ins beruhigte Milieu einer hochspezialisierten Praxis, dieses gleichzeitige Aussortieren und Umgewichten, gar nicht erst in Gang kommen kann.

So gehe ich wie im Traum und erwäge, was mir am wichtigsten ist, das Quantitative oder das Qualitative: dass es in den riesigen Institutionen endlich genug Personal gibt oder dass sie alle zusammen sind, nicht die „Mühseligen und Beladenen“ für sich und der große Rest, eine freilich instabile, stets von Ausgliederung bedrohte Menge, für sich. Ich halte es gern mit der neutralen Zahl. Viele, denke ich, können mehr bewältigen als wenige. Dann müsste sich das Spezielle nicht entwickeln und hätte diesen Makel, den es für seinen Vorzug hält, dieses sich fort und fort Differenzierende, Abgrenzende und Ausgrenzende nicht. Ich überlege, was aus den Kompetenzen wird: ob sie sich in Luft auflösen und wir alle Erzieher und Pflegende sind oder sich verteilen und das Niveau heben, die normale Misere in eine edlere Misere verwandeln, gewissermaßen in eine größere Ausgabe dessen, was im Parterre seinen Ausgang genommen hat. Ich überlege, was mich an den doch so dringend benötigten Einrichtungen stört. Vielleicht, dass sie bei allem Engagement im Dunkeln lassen, was sie reparieren wollen, den defekten Menschen oder die defekte Gesellschaft, ja, wie es mir vorkommt, in dieser Unbestimmtheit ihren Existenzgrund haben. Wenn es um die Gesellschaft geht, dann wird der Einzelne zum Objekt der Kritik gemacht. An ihm wird sie ausagiert, indirekt natürlich, was die Sache aber nicht besser macht. Im Gegenteil, wie gern würde man in der Menge verschwinden und wäre eben nicht im Fokus. Verschwinden wäre besser als geholfen kriegen. Geht es um den Einzelnen, dann ist eine wortwörtliche Verkleinerung nicht nur der Klientel, auch der gesellschaftlichen Probleme die Folge. Die Nische würde sozusagen konstitutionell. Nur wer hineinkommt, kommt hinein. Gedanklich fände man nicht einmal bis zur normalen Schule, geschweige, denke ich rebellisch, zum Gegensatz von Arbeit und Kapital.

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Dieser Beitrag wurde am 18. Januar 2021 veröffentlicht. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink. 1 Kommentar

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