Denn du bist bipolar

Von Karla Kraepelin

Alle Menschen hassen dich. Nein, nicht alle, nur die, die dich wirklich kennen, die dir nahe stehen. Und sie hassen dich eben nicht nicht nur. Sie finden dich auch lächerlich, verachtenswert, peinlich. Aber sie werden es dir nicht ins Gesicht sagen. Der Gedanke zeigt dir, dass du wach bist. Du öffnest die Augen, die Sonne scheint ins Schlafzimmer. Sie ist hell, aber nicht warm. Du bist bipolar.

Du ärgerst dich, darüber, dass du den Tag mit diesem Gedanken begonnen hast. Gestern abend mochten dich zumindest noch ein paar deiner Freunde. Heute morgen nicht. Du ärgerst dich, dass du glaubst, dass du verlacht wirst, und du ärgerst dich, dass du gestern abend noch dachtest, dass Menschen dir nah sein wollen und deine Nähe genießen. Dein Kopf ballert. Die Wirkung der Tabletten auf die Nacht lässt nach, oder dauert zu lang an? Du weisst es nicht.

Du gehst ins Bad. Du gehst unter die Dusche. Du hast dir Musik angemacht. Du hast deine Unterwäsche vergessen. Schon wieder. Weil du einfach deinen Kopf nicht im Griff hast, weil du einfach nicht konzentriert bleibst. Natürlich mag dich da keiner. Wie oft denn noch? Du weißt, dass sie dich nicht ablehnen, aber du fühlst es nicht. Du bist sehr wütend auf dich, weil du doch weißt, dass es anders ist. Nass gehst du aus der Dusche, liest Texte, die man dir geschrieben hat, nette Texte. Es beruhigt dich. Du holst deine Unterwäsche und duschst weiter. Es ist wichtig, auf die Dusche zu fokussieren, auf das Wasser, auf das Waschen, auf die Musik. Du gehst durch, worauf du dich am Tag freust. Du findest etwas. Du fühlst dich sehr dumm und primitiv, weil du es nötig hast, so mit deinen Gedanken umzugehen.

Du siehst dich im Spiegel. Du siehst seltsam aus. Du lächelst dich an. Du schmunzelst. Du hast Lachfalten um die Augen. Du siehst aus, als würde es dir gut gehen. Klar, dass keiner sehen kann, was du fühlst. Das ist gut, es ist gut, dass sie nicht immer sehen, wie du dich fühlst. Aber sie könnten es ja schon vermuten, sie könnten nachfragen. Ja, sie tun es. Aber sie sollten es nicht so tun, nicht so oft und nicht so selten. Du weißt, dass sie es nicht richtig machen können. Solltest du anders schauen? Solltest du weniger lächeln? Und dann? Dann ziehst du alle noch mehr runter, als du es eh schon tust. Weil du dich nur noch um dich drehst, weil deine Gedanken sich nur noch um dich drehen, weil deine Gefühle ein Abgrund sind.

Manchmal stülpt sich der Abgrund nach oben. Die Taucherglocke platzt. Du wirst auf einer warmen Woge wohligen Lichts über die Köpfe der Menschen der Sonne entgegen getragen. Du hast das verdient. Nur du. Und alle anderen sind von dir begeistert. Du kannst sie begeistern. Gemeinsam könnt ihr euch verbrennen und einen Regenschirm voll Licht über dem nächsten entfalten. Immer höher, immer erleichterter. Du fliegst nicht, du bist der Flug. Du bist pures Licht, pure Energie. Wer das nicht sieht, der hat das Leben nicht verstanden. Du stehst auf dem obersten der Lichtregenschirme und schaust lachend auf die Welt, während du pulsierst und der Fokalpunkt allen menschlichen Interesses und Seins bist.

Dann schließen sich die Regenschirme. Alle. Sie waren nie da. Du bist im Tiefseegraben in deiner Luftblase, die immer kleiner wird, du rast nach unten, das Licht vergeht. Die Erinnerung ans Licht vergeht. Die Erinnerung an dich selbst vergeht. Manchmal überlegst du dann, ob es nicht gut wäre, wenn dir die Luft wegbliebe, und schnappst gleichzeitig nach Atem. Willst den Fall beenden, zumindest abfedern. Du merkst, am Ende deines Falles ist kein Aufprall, du fällst einfach immer weiter. Nicht wie Alice, sondern mit jeder weiteren Sekunde des Falls verzweifelter und sicherer, dass es noch eine Sekunde weiter unten noch düsterer wird. Du vergisst, was Farben sind.

Du schaust wieder in den Spiegel, auf die Uhr. Zwei Minuten sind seit deinem letzten Blick auf die Uhr vergangen. Das kann nicht sein. Du überschlägst, wieviele Minuten, wieviele Blicke auf die Uhr du noch vor dir hast, bis die Tabletten abends und der Schlaf kommen. Du rufst dich zur Ordnung. Du lachst dich aus, weil du weißt, dass dieser Ruf zur Ordnung nichts bringen wird. Du rufst dich wieder zur Ordnung. Du liest irgendwas auf deinem Handy. Irgendwas. Egal was. Du überlegst, jetzt jemanden anzurufen, jemanden zu texten, zu jemanden zu gehen. Aber das geht jetzt nicht. Nicht schon wieder. Nicht schon wieder jemandem dieselbe Leier erzählen wie vorgestern. Gestern war doch besser, du warst über dem Berg, du hast es gesagt. Du hast gelogen. Sie wissen dann, dass du gelogen hast. Und sie haben dir doch alles Gute gewünscht. Und du setzt das nicht um. Erzählst immer wieder dieselben Geschichten. Würdest du diese Geschichten immer aufs Neue von jemanden wie dir erzählt bekommen wollen? Eben.

Du schaust wieder auf die Uhr. Eine weitere Minute ist vergangen. Du putzt dir die Zähne. Wofür eigentlich noch? Irgendwann verlässt du das Bad. Dein Partner sieht dich, und sagt, dass du jetzt schon besser als gestern aussiehst. Du stimmst zu. Du sagst, dass du dich heute auch schon wieder besser fühlst und heute ein guter Tag wird. Du würdest dir das selbst glauben. Er glaubt es dir. Wieso? Weil er dein Gejammer satt hat, weil er einfach will, dass du wieder funktionierst. Dir fällt dein Spiegelbild ein. Aber wenn er dich doch kennt, muss er doch einfach sehen, dass das eine Fassade ist. Und dann? Was erwartest du? Wie soll er dir helfen, wenn du es schon selber nicht hinbekommst, deinen Kopf unter Kontrolle zu bekommen – noch nicht einmal für verschissene 48 Stunden. Oder auch nur 24. Das bekommt ja wohl jeder hin. Das ist einfach. Das ist menschlich. Du schaffst es nicht. Du bestätigst noch einmal, dass es dir wirklich gut geht. Vielleicht ist das ja auch so, aber du kannst es einfach wieder mal nur nicht sehen. Weil du so negativ denkst, weil du dich so dem Ganzen hingibst, statt einfach zu kämpfen und weiterzumachen. Weil du unfähig bist, dich einfach an die Struktur zu halten, die man doch gemeinsam mit dir in langen und mühevollen Stunden erarbeitet hat. Du bist einfach undankbar. Undankbar und unfähig.

Auf dem Weg zur Arbeit läuft Musik. Du hast sie gerne ausgesucht. Du hörst sie nicht. Du singst mit. Du greifst in deine Hosentasche. Deine Tabletten sind nicht da. Du schwitzt. Was denn nun, wenn es dir heute schlechter geht? Wieso hast du sie vergessen? Du fährst rechts ran. Die Tabletten sind in deiner Hosentasche. Du hast nur nicht richtig gesucht. Du kommst im Büro an.

Du begrüßt alle. Freundlich. Du lächelst. Du machst Witze. Einige lächeln zurück. Sie haben dich durchschaut. Aber sie lächeln trotzdem, weil es ihnen egal ist. Vielleicht sehen sie es aber auch nicht. Du bist hier immerhin in der Arbeit. Hier ist nicht der Ort für deine Gefühle. Hier sollst du einfach mal was leisten. Wäre doch mal was – für dich. Dann bist du auch abgelenkt. Und immer wieder fühlst du dich ertappt und ignoriert zugleich. Manchmal wirst du darüber sauer – auf dich – auf die Kolleginnen. Du suchst Streit. Du willst in den Arm genommen werden. Manchmal triumphierst du im Streit – weil du recht hast. Bis du gewonnen hast. Dann verstehst du, wie ungerecht du gewesen bist. Manchmal entschuldigst du dich dann. Sie nehmen deine Entschuldigungen an. Was sollen sie auch sonst tun? Das gehört sich so. Manchmal drücken sie noch Verständnis aus. Das fühlt dann gut an. Bis zum nächsten Morgen.

Deine Arbeit machst du gut. Hinreichend gut. Du könntest mehr, du könntest es besser, aber es ist hinreichend. Für deine derzeitige Situation. Derzeitig ist dabei ein dehnbarer Begriff, und letztlich weißt du, dass alle auffangen, was du verbockst, was du verzögerst, was du nicht leistest. Es sagt dir nur keiner – weil man das nicht macht. Weil du ja irgendwie ein Opfer bist. Ein schwaches Opfer, auf das man eben nicht auch noch tritt. Aber bei dem man sich manchmal schon fragt, wieso es weiter mitgezogen wird. Aber insgesamt ist diese Zeit auf der Arbeit die beste des Tages.

Neben dem Schlaf. Wenn du Glück hast, dann sind deine Träume warm, dann weinst du auch manchmal im Traum, und das Hier und Jetzt ist weit weg. Du hast selten Glück bei deinen Träumen. Oft sind sie farb- und formlos, mit kurzen Blitzlichtern von Eindrücken, in denen dein Hirn dir zeigt, was noch alles passieren wird – weil du es einfach nicht hinbekommst. Der Arbeitstag endet. Alle freuen sich auf den Feierabend. Du merkst, wie du das Ende der Leiter der Struktur für heute erreicht hast.

Manchmal machst du dann noch Sport. Auf dem Stepper. Der Schmerz macht irgendwann den Kopf frei. Aber du brauchst immer länger, bis der Schmerz wirkt. Du weißt, dass man Schmerz auch anders haben kann. Aber das machst du nicht. Noch nicht – lacht es in deinem Kopf. Du gehst weiter. Manchmal suchst du zuhause auch den gezielten Streit, manchmal das Mitleid, und meist vergräbst du dich weiter in Arbeit – oder in deinem Bett, im Internet – oder gehst deinen Gedanken nach. Du bist ja erwachsen, es wird dir doch ja wohl mal möglich sein, 10 min. Gedanken nachzuhängen und dabei zu dösen. Du verlängerst dreimal den Timer, stehst nach 45 min. benommen auf. Du warst wieder faul, du warst wieder nicht ansprechbar, du hast es einfach wieder nicht hinbekommen. Du bist krank, das muss man doch verstehen, krank, du hast dir das nicht selbst ausgesucht. Du könntest aber bestimmt mehr tun. Mehr. Tun. Gegen deinen Kopf. Du fauchst wütend, dass du alles tust, was du kannst. Aber du kannst halt nicht viel. Weil du dir selbst zu sehr leid tust. Und weil du es eben auch nicht wirklich versuchst.

Du telefonierst. Manchmal fühlst du dich dann besser. Oft weißt du, dass du wieder und wieder dasselbe erzählst. Du würdest das nicht hören wollen. Und du erzählst es wieder und wieder. Und entschuldigst dich dafür. Auch das in Dauerschleife. Du bist erbärmlich. Manchmal ist dir das egal, manchmal glaubst du, dass du da vielleicht diesmal ein bisschen zu hart mit dir bist, manchmal vergisst du schlicht, all das zu denken.

Du sprichst mit Ärzten, Fachleuten, liest Bücher, nachdenkliche und witzige Meme. Kurt Cobain, Carrie Fischer, Mel Gibson. Das baut dich auf. Nur hinkt der Vergleich eben. Du selbst bist in deinem Körper ganz klein und nur noch kaum sichtbar vorhanden. Was, wenn das jemand wirklich im gesamten Ausmaß erkennt? Aber wäre das nicht auch gut? Und dann? Und dann? Jetzt antworte endlich! Du schaust auf die Uhr. Immer wieder auf die Uhr. Du solltest deine Uhr ablegen, das hat ja was Zwanghaftes. Du hast deine Uhr schon mal abgelegt, dein Handy zur Seite – der Abgrund hat dich gerne wieder aufgenommen.

Aber eigentlich war heute besser als gestern. Im Büro war nett. Dein Partner hat dich angelächelt. Das Telefonat war ok. Es geht aufwärts. Du weißt, dass du das morgen nicht so sehen wirst. Für einen kurzen Moment ist es dir egal. Und nein, du willst jetzt nicht darüber reden, was du noch tun könntest – es geht dir doch schon besser. Wieso kann denn keiner akzeptieren, wenn es mit mir bergauf geht? Man muss doch nur einfach mal hinsehen.

Nach den Tabletten wirst du schnell müde. Du kannst nicht auch noch im Haushalt helfen, du willst dich einfach einmal ausruhen. Genießen, dass es aufwärts geht, dass der morgige Tag gut wird. Endlich. Das vielleicht endlich wieder eine gute, vielleicht ja sogar eine manische Phase kommt. Denn so geht es auf Dauer ja nicht weiter. Du schließt die Augen.

Die Sonne begrüßt dich am nächsten Morgen mit ihren grell-kalten Strahlen. Du bist immer noch bipolar.

 

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