Eine Antwort auf den Beitrag „Weil sind die Leute blöd“ von Michael Wuliger in unserer nicht existierenden Rubrik „So, und was machen wir jetzt?“.
Von Christian Y. Schmidt
I.
Ja, die Menschen sind blöd, ich selbst und Michael Wuliger eingeschlossen. Dafür gibt es eine ganze Reihe von Gründen. Unsere Wahrnehmung ist unvollkommen. Unser Gehirn ist schnell überfordert. Selbst das, woran wir uns erinnern, entspricht selten dem, was sich tatsächlich ereignet hat. Uns kann ein nur leicht trainierter Mensch entgegen aller Tatsachen einreden, dass wir in unserer Kindheit eine Straftat begangen haben oder dass wir als Erwachsene mit einem Heißluftballon geflogen sind, und wir erinnern uns nicht nur daran, sondern können die Erinnerungen an das Nichtpassierte auch noch mit zahlreichen Details erweitern und belegen. Wenn wir sagen sollen, ob zwei Linien auf einem Stück Papier gleich lang sind oder nicht, geben – wie Solomon Asch 1956 experimentell nachwies – nahezu 75 % aller Menschen die Antwort, die alle anderen Menschen im selben Raum auch geben, ob diese Antwort nun richtig ist oder nicht.
Nur bei einem kognitiven Vorgang sind wir Menschen richtig gut, auch wenn wir damit bedauerlicherweise erneut falsch liegen: „Menschen weisen zahlreiche psychologische Wahrnehmungsverzerrungen auf“, schrieben Dominic Johnson (Universität Edinburgh) und James Fowler (UCLA) 2011 in Nature, „aber zu den hartnäckigsten, stärksten und am weitesten verbreiteten gehört die Selbstüberschätzung.“*
Ja, die Menschen sind blöd, und das liegt eben nicht (nur) an den Verhältnissen, sondern ist in der Struktur des menschlichen Gehirns begründet. Aber es gibt eben auch unter den so behinderten Menschen Abstufungen. Das heisst: Die einen sind blöder und andere nicht ganz so blöd. Ein Blöderer würde sich mit der einfachen Aussage zufrieden geben, dass „die Leute“ Trump oder die AfD wählen, weil sie eben blöd sind. Ein weniger Blöder würde dagegen fragen, warum die Leute so etwas nicht immer tun? Warum haben die Leute, die dieses mal Trump gewählt haben, das letzte Mal zum Teil noch Obama ihre Stimme gegeben? Warum konnte eine Partei wie die AfD nicht 1995 so stark werden, wie sie heute ist? Was hat sich in der Zwischenzeit geändert? An der Blödheit „der Leute“ kann es ja nicht liegen, denn die sind ja immer blöd. Auf diese Fragen aber kann der Blödere kein Antwort geben. Oder will es eben nicht.
II.
„Linke glauben, dass die Menschen eigentlich klug und gut sind,“ schreibt Michael Wuliger. Es mag ja Linke geben, die das glauben: Nichtsoblöde Linke glauben das im Bezug auf die Klugheit eben – siehe oben – nicht. Genauso wenig glauben sie, dass die Menschen „eigentlich“ gut sind.
Der nichtganzsoblöde Linke glaubt, dass der Mensch bei seiner Geburt erst mal gar nichts ist, weder gut noch böse, schliesslich hat ein neugeborener Mensch überhaupt keinen Begriff von moralischen Kategorien. Der nichtganzsoblöde Linke glaubt sowieso nicht viel, sondern hält sich bevorzugt an die Realitäten. Er erkennt die einfache Tatsache an, dass der Hauptantrieb eines jeden Menschen der ist, den auch jedes andere Lebewesen antreibt: der Trieb, in dieser Welt möglichst lange zu überleben und dieses lange Überleben auch für seine Nachkommen zu garantieren.
Der Biologe Edward O. Wilson hat nun umfangreich bewiesen, dass es eben nicht der Einzelne ist, der gegen alle anderen kämpft, der mitsamt seiner Nachkommenschaft die besten Überlebenschancen auf diesem Planeten hat, sondern dass Gruppen die treibende evolutionäre Kraft sind. Und zwar sind es nicht irgendwelche Gruppen, sondern Gruppen, in denen die Menschen kooperieren, und ihre unmittelbaren eigenen Interessen zugunsten der Gruppe zurückstellen. Diese Menschengruppen sind denen überlegen, die aus Nicht-Kooperierenden bestehen, weshalb sie sich auch evolutionär durchsetzen. Es gilt also nicht so sehr survival of the fittest, sondern survival of the most cooperative group (Edward O. Wilson: Die soziale Eroberung der Erde: Eine biologische Geschichte des Menschen; 2012).
Da Linkssein eigentlich nichts anderes bedeutet, als sich für Solidarität mit Schwächeren und Kooperation mit anderen einzusetzen, statt den Kampf jeder gegen jeden zu propagieren, braucht man sich als Linker im Grunde überhaupt nicht für moralische Kategorien wie gut oder böse zu interessieren. Ein Mensch muss nur die Frage beantworten, ob er dafür ist, ob die Menschheit als Gattung überlebt oder nicht. Entscheidet er sich für die Gattung, kann er eigentlich nichts anderes als ein Linker sein.
Das heisst: Es geht bei der Entscheidung, welchem Lager man sich anschliesst, gar nicht so sehr um ein moralisches Empfinden, sondern um Vernunft oder Unvernunft bzw. – um im Jargon zu bleiben – um eine Entscheidung zwischen dem Lager der Nichtganzsoblödheit und dem der Blödheit.
III.
Die Frage des Überlebens stellt sich allerdings angesichts des Vormarsch der Rechten auch noch ganz unmittelbar. Wie für viele andere momentan, so scheint auch für Michael Wuliger dieser Vormarsch eher ein ästhetisches Problem zu sein. Er konstatiert Schocks angesichts von Wahlergebnissen, Verzweiflung über strunzdumme Tweets und Facebook-Postings. Und folgert: „Die und anderes Ungemach nimmt man souverän gelassen, wenn man weiß: Weil die Leute sind blöd.“ Letztlich heisst das: Auch wenn Trump, Le Pen, die AfD oder wer auch immer siegt – für die gesellschaftliche Realität hat das keine Folgen.
Hat es aber. Für bestimmte Gruppen geht es bereits heute um Leben und Tod. Für die Asylbewerber, denen die Unterkunft über dem Kopf angezündet wird, oder für die Flüchtlinge, die massenhaft im Mittelmeer ersaufen. Was aber passiert, wenn Trump oder LePen erst einmal die Macht übernehmen, und was das für weitere Gruppen in den jeweiligen Gesellschaften bedeutet, davon haben wir noch keine Ahnung. Doch eins ist sicher: Mit souveräner Gelassenheit wird das, was da kommt, kaum zu bekämpfen sein.
Fazit: Paradoxerweise ist es der reine, individuelle, Selbsterhaltungstrieb, der uns dazu bringen sollte, uns der Linken anzuschliessen, die kollektiveres Handeln in den Vordergrund stellt. Genauso eigennützig und selbstsüchtig handeln wir, wenn wir versuchen den Rechten durch welche Mittel auch immer ein paar Leute zu entreissen, um sie auf unsere Seite zu holen. Oder um es altmodisch auszudrücken: Es gibt auf die Dauer nichts zwischen Sozialismus und Barbarei. Die Frage bleibt natürlich, wie dieser Sozialismus konkret auszusehen hat. Doch das ist jetzt eine andere Baustelle.
* Wer mehr über unser fehlerhaftes Gehirn erfahren will, dem sei das neue Buch von Julia Shaw empfohlen: Das trügerische Gedächtnis. Hanser 2016.
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> Mit souveräner Gelassenheit wird das, was da kommt, kaum zu bekämpfen sein.
ich befürchte, und wenn ich steinmeier richtig zuhöre (ab min 2:00), wohl zurecht – daß es ggfl. schlimmer kommen wird, als wir das gerade ahnen oder wahr haben wollen. wir starren auf einen schneeball, der einen abhang hinunterrollt und sich irgendwann in eine lawine verwandelt.
die frage, die sich eher stellt, – naja, für mich – ist die, womit man seine zeit so verbringt. darüber nachzudenken, wie blöd und warum so blöd die masse ist, wohl weniger – auch wenn ich natürlich die beiträge hier als akte der serlbstvergewisserung statt eines elenden „penitenziagite“ geheuls von selbstgeisslern zu schätzen weiss.
das problem ist, denke ich, längst kein politisches mehr sondern nur noch mit der soziologie zu fassen. und einem rückblick in die geschichte. den rest der entwicklung kann man dann bei christopher clarke in „schlafwandler“ nachlesen.
sorry für die vielen links und den vielleicht allzu ernsten ton.