Ein Gastbeitrag von Benjamin Weissinger
Dass ich für die Prinzessinnenreporter über das „Zentrum für politische Schönheit“ schreiben sollte, schien mir schon vom Namen her einleuchtend. Dass es außerden darum gehen sollte, Flüchtlingen zu helfen, fand ich wunderbar. Armen Menschen in Not muss geholfen werden. Bekanntlich setzen sich viele Reiche und Schöne so gut sie können für diese Menschen ein. Ich etwa war schon oft auf Wohltätigkeitsveranstaltungen und habe dort für Gott und die Welt gespendet, nichts war mir gleichgültig, ich war überall dabei, wenn es die Zeit zuließ. Ich wusste, ich wollte, und ich wusste, ich konnte helfen. Hier aber, beim Zentrum für politische Schönheit, schien es sich um noch konkretere Intervention, um politische, vielleicht sogar gefährliche, ja wagemutige Aktion zu handeln. Von dieser Vorstellung war ich, das kann ich mit einigen Tagen Distanz sagen, berauscht, ja, verzaubert.
Als ich in Berlin auf die ersten Aktivisten traf, ließ ich mich vom Strom der Menschen mitreißen und schnappte allerhand auf, das ich mir vorher bewusst nicht angelesen hatte, denn ich wollte die Aktion unvoreingenommen aufsaugen. Ich erfuhr also, dass ich Teil eines „Marschs der Besessenen“ sei, so nannten sie es, glaube ich, und dass man zum Reichstag ziehe, um dort zu demonstrieren. Hervorragend, dachte ich, und spürte eine positive Anspannung in mir, aber auch unter meinen Mitdemonstranten. Ein unsichtbares Band, das schon nach wenigen Minuten zwischen uns bestand. Mit dem Vorschlag, uns ein paar Taxis zu rufen, setzte ich mich aber ganz schön in die Nesseln. Gelächter, aber durchaus gutmütiges.“Wir laufen natürlich!“ Urig. Toll. Wie neulich die Staatsoberhäupter beim Almauftrieb. Das Wetter ließ es auch zu. Wir machten auf dem Weg einige Fotos voneinander. Auf den meisten war ich in der Mitte, das geschah alles ganz natürlich und unverkrampft. Dann endlich kamen wir am Reichstag an. Es hatten sich schon viele Mitdemonstranten versammelt, und nun erfuhr ich, dass es noch eine spezielle Aktion geben solle, nämlich das Ausheben von Gräbern.
Jeder, der noch nie ein Grab ausgehoben, geschweige denn jemanden unter die Erde gebracht hat, kann sich wohl den spontanen Widerwillen vorstellen, mit dem ich auf diese etwas morbide Idee reagierte. Vor allem, wie sollte das Flüchtlingen helfen? „Mensch, die Toten kommen. Deutschland muss sie endlich wahrnehmen“, versuchte mir jemand auf die Sprünge zu helfen. Die Toten kommen? Wo… ? -„Jetzt?“ -Ich drehte mich doch sehr verunsichert, und, ich will das garnicht leugnen, auch etwas verängstigt um. „Nicht wirklich, Mensch, symbolisch.“ Symbolisch? Wie. Warum. Die Toten…was wollen die denn mit Toten? Ich schwieg aber, da ich das ärgerliche Gefühl hatte, mich mit weiteren Fragen nur zu blamieren, und wartete ungeduldig ab, was geschehen würde.
Irgendjemand hielt über Lautsprecher eine Rede, die mich aber – um ehrlich zu sein – nicht sonderlich interessierte. Viel aufregender fand ich, wie sich viele meiner Mitdemonstranten auf die eigentliche Aktion vorzubereiten schienen. Einige zogen Säcke mit Erde hervor, andere hatten plötzlich Bretter und Holzpflöcke in der Hand. Mich erinnerte das irgendwie an Bram Stoker’s Dracula, wie er mit Heimaterde nach London zieht, aber auch dort nicht zur Ruhe kommt, was ich allerdings für mich behielt. Dann brach etwas entfernt von mir die Hölle los. Einige hundert Demonstranten kesselten eine kleine Polizeieinheit ein, die offensichtlich versucht hatte, die Aktion zu sabotieren. Alle brüllten „Mörder! Mörder!“.
Kalter Schweiß brach mir aus. Mord? Gerade eben? Ich wollte schon Hals über Kopf davonlaufen, als mir eine Mitdemonstrantin sagte, es sei nicht wirklich jemand gestorben. „Ach, symbolisch“, stellte ich erleichtert fest. Sie nickte etwas zögerlich. Anderswo gelang es den Aktivisten, mit ihren Utensilien teils sehr schöne Grabattrappen auf den Rasen zu zaubern. Jemand brüllte mir seitlich ins Ohr, ich solle nicht vergessen, das sei auch Kunst. „Keine Sorge, ist mir schon aufgefallen“, sagte ich etwas barsch, denn die unaufhörlichen Belehrungen begannen mich nun doch etwas zu stören. Dann kamen mehr Polizisten und wollten wohl wieder stören. Alles ging sehr schnell, viele liefen und riefen nun durcheinander, und ich taumelte verwirrt, aber auch zunehmend beseelt durch diesen herrlichen Rummel.
Denn langsam verstand ich, ohne dass es mir jemand hätte sagen müssen. Die Gräber und das alles – das sind wir. Die Toten in den Gräbern, die ja in Wahrheit garnicht da sind und ja auch nur symbolisch gemeint sind: Das sind auch wir. Wir müssen aus diesen selbstgeschaufelten Gräbern auferstehen, weil wir garnicht tot sind, ja, wir müssen zu Flüchtlingen werden, die den Rasen nach und nach verlassen müssen. Weiß Gott, das Zentrum hatte mich aufgeweckt. Ich fühlte mich wie ein Flüchtling im Widerstand, neugeboren, auferstanden, irgendwie gut drauf. Mit viel Verantwortung, mit einer Mission, die für mich bestimmt ist. Ich sah meinen Brüdern und Schwestern, so nannte ich sie jetzt, an, dass es ihnen auch so ging. Alle hatten dieses Leuchten in den Augen. Das Bewusstsein, sich, aber eben auch anderen, etwas wirklich Gutes getan zu haben. Natürlich auch für die anderen Flüchtlinge, denen es noch etwas schlechter geht. Denn, wie ich es auf dem Weg in eine sehr nette Kneipe, in der wir Schönen es uns den Abend noch lange und zurecht gut gehen ließen, so schön sagte: Spenden und irgendwo helfen, schön und gut. Aber sich und andere wirklich bewegen, also symbolisch, Aktion, Kunst auch, Humanismus, Menschenrechte, ja, Widerstand, und das eigene Ich, das „Ich“ betonend, für andere! Das ist das, was wirklich zählt.
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