Frau S. äußert sich … über ihr Gemächt

5. Folge einer Miniserie von unserer Gastprinzessin Ilse Bindseil

Es sei nur ein Zufall gewesen, ein ganz blöder Zufall. Shit happens, wie die Propheten sagen. Der Arzt hatte soeben den Abstrich gemacht, der die verhängnisvolle Diagnose erbringen sollte, und dann hatte die medizinisch-technische Assistentin, die zwischen den Untersuchungsräumen und dem Labor hin- und herpendelte, sie überfallen. Sie hatten noch nie ein Wort miteinander gesprochen, jetzt redete sie sie an, als wären sie Seelenfreundinnen, Schwestern, der Ausdruck sei damals gerade aufgekommen. Ob sie, Frau S. zeigte schamhaft auf ihre Brust, sich schon einmal für ihren Muttermund interessiert habe. Sie könne sich gar nicht vorstellen, wie schön er sei. Von einer zarten Haut überzogen, schimmere er wie eines dieser rätselhaften Wesen, die sich im Wasser wiegen, Qualle oder Anemone. Sie solle es einmal mit einer Selbstuntersuchung probieren, einfach das Spekulum in die Hand nehmen und sich trauen.

Für sie war es wie eine Begegnung der dritten Art. Die junge Frau kam ja aus dem Labor. Sie hätte ihr von der Regelmäßigkeit der Zelle vorschwärmen können, dann wäre es ein Fall von Déformation professionnelle gewesen, nicht weniger, aber auch nicht mehr. Einen Moment habe sie überlegt, ob sie schon ihren Abstrich untersucht hatte und ihr durch die Blume etwas mitteilen wollte, bei der Schönheit des Muttermunds anfangen und bei der Zerstörung durch den Krebs enden. Wenn man vom Arzt kommt, denkt man ja immer alles Mögliche. Aber sie war ja soeben erst vom Stuhl geklettert. Einen Moment hatte sie sich gefühlt, als hätte man ihr aufgelauert, als wäre ihre Schwäche ausgenutzt worden. Da sie nie gelernt hatte, anderen Grenzen zu setzen, stotterte sie eine Zustimmung, von der sie hoffte, dass sie nicht nur ihren mangelnden guten Willen, sondern auch ihre gänzliche Inkompetenz verbergen würde. Denn um ihre Geschlechtsorgane hatte sie immer einen Bogen gemacht, und sie fühlte sich ertappt. Schließlich hatte sie welche. Wahrscheinlich hätte sie gar nicht davonlaufen müssen, die junge Frau sah ja, dass bei ihr Hopfen und Malz verloren war. Ignoranz und Abwehr, das war eine Verbindung härter als Stahl. Aber sie floh durch den fensterlosen Flur, von dem rechts und links die Untersuchungsräume abgingen, nahm ihn buchstäblich unter die Füße und schickte ein Stoßgebet zum Himmel, dass sie ihn nie nicht wieder betreten müsste. Was auch geschah, denn das nächste Mal sei sie direkt auf Station gekommen.

In der Rückschau über Jahrzehnte falle es ihr leicht zu verstehen, warum die junge Frau ihr eine andere Sicht auf ihre Geschlechtsorgane vermittelten wollte. Sicherlich hatte sie sie sich in einer der feministischen Schulungen zu eigen gemacht, wie sie in den alternativen Einrichtungen stattfanden, die damals wie Pilze aus dem Boden schossen, und fühlte sich in der medizinischen Umgebung neuerdings am falschen Platz. Für die Patientin war sie natürlich ein Teil des Apparats, entfremdeter noch als der Arzt, da sie ja im Labor hauste und nur selten einen Menschen zu sehen kriegte, noch weniger kommunizieren musste, allenfalls über Anweisungen. Mit ihr habe die junge Fachkraft noch zusätzlich Pech gehabt, da sie selbst als einzige Nichtmedizinerin in der Familie ein Verhältnis unnatürlicher Nähe zur Medizin hatte und mit Begriffen, die anderen Schrecken einjagten,  gewohnheitsmäßigen Umgang pflegte. Das ist also eine MTA, dachte sie, und ihre Kindheit tat sich auf, in der die Abkürzungen eine noch poetischere Rolle gespielt hatten als die Begriffe, die ihre Bedeutung wenigstens andeutungsweise verrieten. Selbstgenügsam und auf ihre Weise vollständig, waren sie wie Abkömmlinge einer anderen Welt, ihre Unverständlichkeit korrespondierte mit ihrer Vollkommenheit. Hatte ihre Mutter ihr nicht erzählt, wie sehr sie in der Klinik die MTAs gehasst hatte, seien die im Kampf um den heiratsfähigen Arzt doch eine kaum zu schlagende Konkurrenz gewesen, da sie bereits über ein schönes Gehalt verfügten und sich hübsch machen konnten, während sie, die angehenden Medizinerinnen, noch buchstäblich am Hungertuch nagten? Lernen dürfen und sich hübsch machen können waren beinahe schon Antagonisten.

Das fiel ihr alles ein, als die Laborantin sie sich vorknöpfte, und sie fand sie furchterregend stark, wenngleich irgendwie nicht echt. Sagen wir so: wie eine Abgesandte aus der Bilderwelt ihrer Kindheit, mit den ausdrucksstarken Grimassen der Rolle, auf die ihr Auftreten sich beschränkte. Sie hatte sich den widersprüchlichen Eindruck sogleich dahingehend übersetzt, dass sie die junge Frau wenig attraktiv fand, um nicht zu sagen hässlich. Offenbar hatte sie sie in all dem Stress mit den neidischen Augen ihrer Mutter gesehen.

Apropos Mutter. Die habe ihr nicht nur von den MTAs, sondern auch von den Polinnen berichtet, an denen sie sich schon in ihrer Jugend gerieben hatte, kein Wunder bei der räumlichen Nähe und der seit jeher gepflegten Abgrenzung. Ihrer Eleganz wegen galten sie als die Französinnen des Ostens, aber diesen Ausdruck konnten sich die neidischen Mädchen unmöglich selbst ausgedacht haben. Ganz anders als sie, jedenfalls, mit ihrer vermuckten schlesischen Erziehung, machten sie aus nichts viel und waren obendrein schlagfertig. Aus nichts viel, das galt vor allem für ihren Busen. Ihre Mutter hatte für geringere Verschönerungen, als sie ein BH bedeutete, der die Brüste hoch schob, eine Ohrfeige kassiert. Mit einer Rüstung, wie sie sie an den Polinnen bewunderte, hätte sie sich außerhalb der menschlichen Gesellschaft gestellt. Frau S. seufzte. Die Ausläufer einer solchen Auffassung hatten auch ihre Jugend noch gestreift. Aber sie wolle kein Drama daraus machen, bloß andeuten, dass ihr eigener Weg zum Körper ein Labyrinth war und der zu ihrem Geschlecht in lauter Sackgassen endete.

Apropos Sackgasse, Frau S. guckte erstaunt. Als sie damals, von der Schule heimkommend, noch an der Tür heraussprudelte, dass es sich jetzt auch bei ihr eingestellt habe – sie war wie bei allem, Pony, Seidenstrümpfe, enger Rock, auch hierin die letzte in der Mädchenklasse −, da sei ihre Aufregung auf die Mutter übergesprungen. Deren Reaktion sei alles andere als mütterlich gewesen. Sie war erschrocken, und einen Moment konnte man in ihr das Mädchen sehen, das sich erschreckt hatte, als es sich bei ihr eingestellt hatte. Da sie aber erwachsen war, war sie von der Aufregung der Tochter wie peinlich berührt und vertröstete sie auf später, im Wohnzimmer sei Besuch. Von der Einsamkeit, die die Reaktion ihrer Mutter in ihr erzeugte, sagte Frau S., mache man sich keine Vorstellung. Wie in einem schlechten Theaterstück, in dem die Türen auf- und zuklappen, ließ sie sich von der Bühne verdrängen, trat von der Eingangstür gleich in die Toilette, die in ihrer Kargheit und Kälte beinahe ein Außenklo war, trat durch die eine Tür und verschwand durch die andere. Aufatmend hatte sie sich aufs Klo gesetzt. Sie sei nämlich Fahrschülerin gewesen, da konnte alles Mögliche passieren. Ab da sei es dann öfter ein Wunder gewesen. Irgendwie müsse der Körper geholfen haben, sonst war es gar nicht zu erklären.

An dieser Episode, Frau S. seufzte, sei vieles befremdlich. Dass ihre Mutter die Tür öffnete, wenn sie von der Schule nach Hause kam, kam sonst nicht vor. Um diese Zeit half sie ihrem Mann in der Praxis, damit die Vormittagssprechstunde nicht nahtlos in die Nachmittagssprechstunde überging. Dass im Wohnzimmer Besuch lauerte, müsse ein grober Erinnerungsfehler sein. Wer sollte ihre Mutter um die Mittagszeit zu Hause aufsuchen? Menschen gehörten entweder zur Arbeit oder zur Familie. Sei spätabends doch einer von Vaters Freunden vorbeigekommen, rümpfte die Großmutter am Tag darauf die Nase, weil es nach Mann roch. Nur gelegentlich habe jemand ihre Mutter um einen Rat gebeten, wie ihn ihre Töchter nie von ihr verlangten. Sie hatten ihr auch nicht geglaubt, wenn sie das behauptete, denn sie lächelte so komisch. Tatsache blieb, dass die Mutter sie nicht ins Wohnzimmer ließ. Vielleicht wollte das Schicksal sie für ihre unsinnigen Ansprüche bestrafen, denn vage hatte sie sich vorgestellt, dass sie in die gute Stube geführt würde und die Familie, um sie zu ehren, sich um sie versammelte. Die zwei Seiten der Initiation eben.

Sie frage sich noch heute, wie ihre Mutter über das Natürlichste in der Welt erschrecken konnte. Sie sei ja Ärztin gewesen. Aber die Ärztin gehörte zur Arbeit, nicht zur Familie. Bezaubernd jungenhaft und ein echter Kamerad, wenn sie gut drauf war, sei sie nie ganz Frau geworden, und in ihren, der Tochter, Augen sei das meist ein Vorzug gewesen, ein Versprechen für die eigene Zukunft. Aber als sie in das entsetzte Gesicht des Mädchens von anno dazumal geblickt habe, das ein Junge hätte sein wollen und sich jetzt auch noch bei der Tochter in ihren Hoffnungen betrogen sah, da hätte sie gern eine Mutter gehabt wie ihre Freundinnen. Ihr selbst habe ja, wie solle sie es ausdrücken, jene ursprüngliche Weiblichkeit gefehlt, der sie das Geschehen zuordnen konnte. Nur dass die Mutter sie in diesem entscheidenden Moment im Stich ließ, habe sie verstanden und das Gefühl essentieller Einsamkeit registriert, das sich daraus ergab. In der Folge seien Fantasien wie Sturzfluten über sie hereingebrochen, über deren Intensität und, ja, auch Rohheit man sich nur erschrecken konnte, denn ungeachtet ihrer grotesken Unkenntnis in geschlechtlichen Dingen hatte sie einen starken Trieb, konnte ihn aber nicht verorten. Nie hätte sie das Allumfassende, zugleich Ausgeklügelte solcher Empfindungen auf jene Teile bezogen, die sie nur als Abwesende kannte. Mit Scham erinnere sie sich der Heftigkeit der Versuche, diese Teile zum Reden zu bringen. Ihre Fantasien blieben eine Kopfgeburt, wenn sie sie auch in heftigste Erregung versetzten, und die Teile – Frau S. lachte über das verächtliche Wort – stumm.

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