Gott hält Rat

Protokoll der acht Sitzungen zum Zusammenbruch der Geschlechterordnung. Von unserer Gastprinzessin Ilse Bindseil, die exklusiv dabei war

Erste Sitzung

Gott räuspert sich: Ich habe dieses Gremium einberufen, um zu klären, wie es zum Zusammenbruch der Geschlechterordnung kommen konnte. Gott hüstelt: Vielleicht sollte ich lieber, äh, Genderordnung sagen, sonst kommt noch jemand auf die Idee, ich dächte an die glorreichen Familien von anno dazumal, deren Zeit schon so lange abgelaufen ist, Gott, äh, sei’s geklagt. An die denke ich oft. Da waren wir selbst noch jünger.

Gott trinkt ein Schlückchen. Wenn ihr euch umguckt, sagt er, dann fällt euch sicher auf, dass wir in dieser Runde schon einmal zusammengesessen haben, wenn auch vor langer Zeit. Ich denke nämlich, dass das Chaos, dem wir uns gegenübersehen, von einem Geburtsfehler jener Ordnung herrührt, die wir eingerichtet haben und deren Zusammenbruch wir jetzt beklagen. Es macht also Sinn, sagt Gott und rückt in seinem Sessel, wenn wir, die Zeugen und Macher jener ersten Stunde, uns mit dem Anfang beschäftigen. Es geht um den zweiten Blick. Was haben wir gemacht und warum?

Sagt halblaut der Sekretär: Man sollte hinzufügen, dass der Feminismus, mit dem wir – er blickt in die männliche Runde – ja gar nichts zu tun haben, zu einem Zusammenbruch der Ordnung geführt hat, innerhalb derer er den Platz der Frauen neu bestimmen wollte. Ein Fall besonderer Tragik, sozusagen.

Mit strengem Blick unterdrückt Gott die Herrenwitze, die hier und da aufflackern wollen. Sagt: Ich sage nicht, wie konnte das passieren, sondern wie hängt das alles zusammen?

Zweite Sitzung

Erinnern wir uns, sagt Gott. Warum sind wir damals tätig geworden?

Es lief ja alles durcheinander, moniert einer, der sich anhört, als sähe er es vor sich. Pêle-mêle, sagt er angewidert und haucht den Verschlusslaut über die Köpfe der Versammelten.

Wusel, wusel, sagt Gott. Es hatte ihm damals gefallen.

Laut Protokoll, sagt der Sekretär, dauerte es einen Schöpfungstag und länger, bis wir herausgefunden hatten, dass wir nicht nur einen Unterschied, sondern einen tragenden Unterschied brauchten. Ihr müsst wissen, erinnert er, ein tragender Unterschied war noch gar nicht definiert. Der Unterschied an sich war bekannt. Der tragende Unterschied war eine andere Liga.

Steht einer auf, der eine längere Ausführung vorzubringen hat, erstens eine Ausführung und zweitens eine längere. Stößt in seinem Rücken jemand den Nachbarn an: Weißt du noch, wie du gemeint hast, wir nehmen einfach irgendwas, sag Sommersprossen, und dann? Die paar mit Sommersprossen treten raus, und der Rest: pêle-mêle. Er äfft den Vorredner nach.

Ein tragender Unterschied, führt der Redner oberlehrerhaft aus, ist zweierlei: erstens allgemein …

Typisch, kichert jemand, es geht um eine Besonderheit, und was kommt heraus? Eine Allgemeinheit.

Genau, sagt der Oberlehrerhafte, und plötzlich salopp: Wenn wir das nicht in die Birne kriegen, können wir gleich einpacken.

Sachte, sagt Gott, wir können uns ja immer noch auf das zweite freuen.

Und zweitens notwendig, sagt der Oberlehrerhafte. Er erhebt Stimme und Finger. Es muss ein notwendiger Unterschied sein. So wie das Allgemeine einer Besonderheit bedarf, so das Notwendige eines Bezugs. Auf diese Weise sind wir zur Fortpflanzung gekommen. Die Fortpflanzung ist notwendig, und der Unterschied, der dafür benötigt wird, auch. Wir haben es also nicht nur mit einem logischen, sondern auch mit einem … 

Bio-logischen, springt einer ein. Wollte aber vielleicht nur einen Witz machen.

Biologischen Unterschied zu tun, sagt der Oberlehrerhafte. Hauptsache logisch. 

Hauptsache logisch, wiederholt er unwillkürlich. Er würde gern noch etwas loswerden, aber …

Setzen, murmelt jemand, und er setzt sich. 

Uff, sagt einer, der nun gar keinen Respekt hat. Vor niemand und vor nichts.

Gott aber kraust die Stirn, und der Sekretär macht es ihm nach.

Dritte Sitzung

Weil wir uns über alles andere nicht einig werden konnten, eröffnet Gott die folgende Sitzung, setzten wir die Fortpflanzung an die erste Stelle. 

Er liest von dem Blatt ab, das der Sekretär ihm rübergeschoben hat: Wenn wir schon nicht wussten, worauf es mit der Menschheit hinauslief, wollten wir doch wenigstens sicherstellen, dass sie Bestand hat. So hatten wir immer noch Zeit, uns einen Sinn für sie auszudenken.

Kommt hinzu, sagt der Oberlehrer lehrhaft, dass für die Fortpflanzung die Vereinigung von zwei einander ausschließenden Merkmalen nötig ist. So konnten wir die Menschheit gleichzeitig trennen und verbinden.

Er hat das Modell noch nicht zu Ende gedacht, aber mit Sommersprossen, ist ihm klar, funktioniert es nicht. Sommersprossen sind willkürlich. Alles, was nur trennt und nicht auch verbindet, ist willkürlich. Kann man das so sagen?

Kam hinzu, sagt er laut, dass wir die Menschen hälften konnten. Es blieb ja keiner außen vor. 

Aber nur, hört man widersprechen, wenn man die Fortpflanzung absolut setzte.

Habe ich nicht allgemein und notwendig gesagt? sagt der Oberlehrerhafte. 

Die Menschen nicht nur teilen können, fährt er fort, was einen unendlichen Prozess in Gang gesetzt hätte, sondern hälften, das war wie … 

Ein Sechser im Lotto, schlägt Gott vor.

Ja und nein, widerspricht der Oberlehrerhafte, den am Lotto etwas stört. Denn diese Hoffnung gründete sich nicht auf den Zufall, sondern in doppelter Weise auf die Logik, was freilich an ein Wunder grenzt. Zwei positive Merkmale, die ein verbindliches Entweder-oder formen. Jeder Mensch ist entweder Mann oder Frau, so haben wir die Menschheit gehälftet und die Fortpflanzung gesichert. Mehr kann man nicht verlangen.

Gleichwohl ist es für mich nicht nur ein faszinierender, sondern auch schwieriger Gedanke, setzt er hinzu, stehe ich als Logiker doch wie vor den Pforten des Seins, und ich frage mich: Ist die Ordnung die Voraussetzung der Fortpflanzung oder die Fortpflanzung die Voraussetzung der Ordnung?

Er würde gern noch ein bisschen nachdenken. Was handelt man sich ein, wenn man sich auf das Biologische stützt? Aber Gott schlägt hastig eine Pause vor. Trotzdem will noch jemand etwas loswerden.

Was heißt hier hälftig, sagt er. Seht mich, seht euch an, wir nehmen schon wer weiß wie lange nicht mehr an der Fortpflanzung teil und sind dennoch durch diese Unterscheidung markiert. Das nenne ich der Fortpflanzung etwas aufhalsen. 

Zum Nachbarn: Sehe ich morgens in den Spiegel, sage ich zu mir, los, sei ein Mann. Heb die Nase. Was sollen die Leute denken!

Nach der Pause übergibt Gott noch einmal an den Oberlehrerhaften. Sagt der: Indem wir den Coup des Jahrhunderts gelandet, nämlich Logik und Bios verknüpft haben, haben wir einerseits ein stabiles, andererseits ein fragiles Gebilde zustande gebracht. Die Logik ist unerschütterlich, und das Leben, denk ich mir, auch. Aber beides verknüpft, ergibt ein fragiles Gebilde. Darüber muss ich nachdenken.

Stützt den Kopf aufs Handgelenk. Plus plus plus, murmelt er, gibt …?

O mein Gott, sagt Gott. 

Vierte Sitzung

Meldet sich einer, von dem man bislang nichts gehört hat. Kein Wunder, liest er doch, sobald er das Interesse an der Unterhaltung verliert, und je mehr er liest, desto eher verliert er das Interesse. Man erzählt sich, dass er nicht nur während der Sitzungen, sondern auch unter der Bettdecke liest, beim Essen sowieso. Ich lese ja nicht mit dem Mund, sagt er, und was fürs Essen gilt, gilt praeter propter auch für die Unterhaltung, soll heißen, er liest beim Reden, und beim Zuhören sowieso. Soll heißen: Er ist nie richtig dabei, aber es schwirrt ihm allerlei durch den Kopf.

Während er gelesen hat, hat sein Kopf sich mit dem notwendigen Unterschied beschäftigt: ob man ihn wirklich braucht. Ob man nicht Ordnung schaffen könnte, auch ohne ihn, eine wirksame, wenn auch nicht unbedingt eine hälftige. Er kann nicht sagen, warum, er findet das nicht koscher, das mit der Logik und der Fortpflanzung, sondern irgendwie fundamentalistisch. Dies Doppelte, das durch die Fortpflanzung ins Spiel kommt, macht ihn kirre. Er weiß nicht, wie er damit umgehen soll, aber ein schlechtes Gefühl hat er. Es gibt doch Alternativen, sagt er. Die Menschheit ist ja schon mal gehälftet worden, aber anders: getrennt, nicht gleichzeitig verbunden. Ist das nicht ehrlicher? Denkt an Götter und Menschen, sagt er, das ist eine saubere Sache: Auch wenn sie ununterbrochen kopulieren, entsteht doch nichts Eigentliches, die Menschheit Beförderndes, höchstens Merkwürdiges daraus. Er hat’s gerade noch bei Percy Jackson gelesen und kann versichern, die Leute mögen das, die Kids sowieso. 

Dem Sekretär liegt ein Begriff auf der Zunge, aber er würde sie sich eher abbeißen, als ihn in die Debatte zu werfen: Latenz. Sie haben zu Beginn der Untersuchung alle unterschrieben, dass sie keine Psychologie wollen. Er hat zuoberst seinen Namen gesetzt und ist mit der Liste rumgegangen.

Denkt an die Himmlischen und die Irdischen, sagt die Leseratte. 

Denkt an die Engel, ein anderer. Haben die mit Fruchtbarkeit zu tun?

Sind ja keine Menschen und heißen auch nicht so.

Gott will die Sitzung vorzeitig beenden: Genug Hirnstoff für einen Tag. In echt überlegt er die Sitzung im Protokoll zu überspringen. Einfach weglassen. Aber da meldet sich noch jemand. Er hat etwas Ähnliches, sagt er. Aber auch wieder ganz anders.

Geht’s schnell? fragt Gott. Sonst heben wir es für die nächste Sitzung auf. Zur Not kann man im Protokoll beide überspringen. Wird auch knackiger so.

Fünfte Sitzung

In der Kürze liegt die Würze, sagt Gott. Hat so ein Tönchen in der Stimme. Die Revision scheint selbst zum Problem zu werden, und das will er unter allen Umständen vermeiden.

Die Geschichte handelt davon, wie Gott den Tieren ihren Namen gab. Paarweise trotteten sie vor zu ihm, und er nannte sie bei ihrem Namen, und von da an hatten sie einen. Er sei sich nicht sicher, sagt der Redner, ob das mit den Paaren nicht später dazugekommen ist. An dieser Stelle, jedenfalls, gebe es eine Wendung so recht ins Kindliche hinein: Ein Tier kommt zu spät, hat die Zeit verträumt, die Einladung nicht ernst genommen. Die Konsequenz, und hier zittert das Kindergemüt: Es bleibt namenlos. Er denke, das passiert nur, wenn man allein ist. Bei einem Paar gibt es immer einen, der den andern antreibt. Er schmunzelt, ist er doch so einer, dem man Beine machen muss.

Und wie ging das aus? Das Tier war ja nun da.

Das hat er vergessen. Aber man könne die Geschichte auch mit Pflanzen erzählen. Da wird die kleinste übersehen. Und hier weiß er, wie die Sache ausging: Gott nennt sie Vergissmeinnicht. Ein Akt der Wiedergutmachung oder des Trosts. Ist doch hübsch, oder?

Sehr hübsch. Aber was hat das mit unserem Problem zu tun? 

Der Erzähler schaut verwirrt. Ob sie nicht sähen, dass da ein anderes Prinzip am Werk sei, ein, wie soll er es bloß ausdrücken, eher melodisches als …

Diktatorisch, will er nicht sagen. Aber auf die Schnelle fällt ihm nichts Besseres ein. Also: Da ist mehr Melodie, weniger Diktat. Wenn man die Geschichte erzählt, merkt man es gleich. Es ist eben eine Legende.

Der Oberlehrerhafte nickt. Eine Reihe ist es jedenfalls, sagt er. Man kann auch sagen: eine Aufzählung. 

Da ist aber verdammt viel Luft dazwischen, findet Gott, zwischen deinem und unserem Modell, und nicht nur wegen der Reihe. So geübt ist er im Denken nicht, dass er sich ohne weiteres zutrauen würde, den gap zu überbrücken.

Eine Ordnung im Namen der Vielfalt, begeistert sich einer aus der Runde. Ein Sammeln, kein Aussortieren. Passt doch. 

Die Ordnung der Dinge, zitiert die Leseratte. Statt fortpflanzen: sein, flüstert es im gepolsterten Raum. 

Wenn ich hälfte, sortiere ich auch niemanden aus, sagt der Oberlehrerhafte mit erhobener Stimme. Und: Ich vergesse nicht einen einzigen. Da gibt es kein Vergissmeinnicht, sagt er spöttisch, und niemand muss sich sputen, damit er überhaupt existiert. Er gehört entweder in die eine oder in die andere Hälfte.

Aber nicht alle fühlen sich in ihrer Hälfte zu Hause, sagt der mit dem Vergissmeinnicht mutig. Weder durch sie repräsentiert noch mit ihr identisch!

Sollen sie auch gar nicht. Existieren sollen sie, nicht repräsentieren oder so ein Quatsch.

Wer hat das gesagt? Der Oberlehrerhafte guckt verdutzt, und Gott hat vor Schreck abgeschaltet. Eigentlich war es ganz schön, damals, und es war wirklich etwas anderes als hälften. Aber als er die Namen vergab, wusste er sofort, dass er sie sich niemals würde merken können. Indem er sie vergab, vergaß er sie. Er kann sich nicht einmal erinnern, dass sie aus ihm herausgekommen wären. Sie waren ihm zugeflogen, und wenn das stimmte, konnten sie ebenso gut weiterfliegen.

Wenn das mit dem Vergessen also nicht so schlimm ist? Womöglich das Gegenteil von schlimm?

Heimlich zieht Gott einen Zettel aus seiner Gesäßtasche, notiert:

Nicht vergessen: Vergessen!

Sechste Sitzung

Im Bemühen weiterzukommen, auch die letzten beiden Sitzungen im Protokoll gegebenenfalls überspringen zu können – man muss es ja nicht gleich entscheiden −, sagt Gott: 

Feminismus.

Er schrickt zusammen. Was hat er gesagt?

Äh, Fortpflanzung.

Er horcht dem Klang nach. 

Ist es das, was wir damals gedacht haben? Wovon wir ausgegangen sind? Es kommt mir so fremd vor. Ich kann mich gar nicht erinnern.

Wusel, wusel, denkt er. Das war mal was. Aber was hatten wir mit Fortpflanzung zu tun?

Der Sekretär blättert in seinen Papieren und findet natürlich nichts. Dafür fällt ihm etwas ein.

Wenn wir die Menschen nicht ständig erschaffen wollten, mussten sie es selbst tun. Wahrscheinlich haben wir das gedacht. Reproduktion statt Produktion. Eine Vereinfachung, logisch.

Er schielt zum Oberlehrer hinüber, der prompt den Kopf schüttelt.

Gott nickt bedächtig. Er, der große Vereinfacher, sieht nicht, was daran falsch sein sollte. Aber das Thema ist ihm nicht angenehm. Zu viel Nähe zu ihm, Gott.

Fortpflanzung ist gut, sagt er, muss er ja. Aber kann mir jemand sagen, was es mit dem Feminismus auf sich hat? Geschlecht, höhnt er, warum überhaupt Geschlecht? Was soll das sein? Ein Kunstgebilde ist es, ein gottverdammtes. 

Er will es nicht erklärt kriegen, er will nur wissen, wie es dazu kommt. Denkt: Wehe, sie wollen es mir erklären, den ersten kriege ich dran. 

Divers, höhnt er. Noch so ein Wort. Um auf die Namen zurückzukommen, warum nicht einfach: Wie-Gott-mich-schuf!

Feminismus, okay, denkt er, Feminismus hat etwas mit dem inneren Verhältnis zu tun. Er hat ja auch gedacht, und vielleicht ein paar Jahrhunderte früher als diese modernen Macher, ob man das Geschlechterverhältnis neu justieren sollte. Nicht müsste, aber könnte. Einfach, weil man kann. Das Problem, so wie er es sieht: Gibt es am Anfang ein winziges Ungleichgewicht, wird es im Verlauf der Zeit immer größer. (Unter uns: Er war das winzige Ungleichgewicht!) Greift man nicht rechtzeitig ein, kommt es zum Sprung.

Auf seinem Gesicht breitet sich ein Lächeln aus: Er hat`s kapiert. Er hat das mit dem Sprung kapiert! 

Dabei ist der auch nur eine Art, die Sache zu korrigieren.

Trotzdem. 

Siebte Sitzung

In medias res, liest Gott von seinem Zettelchen ab. Übersetzt auch gleich selbst: Machen wir Nägel mit Köpfen. 

Erstens, Geschlecht: Gibt`s nicht. Gott ist es egal, davon mal abgesehen. Er will nur sagen, man hätte es früher wissen können, wenn man dem Prinzip der Ähnlichkeit, dem erhabenen Prinzip der Ebenbildlichkeit mehr Aufmerksamkeit geschenkt hätte. Aber er, Gott, ist ja auch nicht immer bei der Sache geblieben, und er ist auch nicht an Schuldzuweisungen interessiert. Er will nur wissen …

Hier nickt der Oberlehrerhafte ein bedeutsames Nicken. Er hat nachgedacht und ist zu einem Ergebnis gekommen.

Merkt euch: die Fortpflanzung hälftet das Geschlecht, meinetwegen auch die Menschheit sich dank der Fortpflanzung, aber niemals das Geschlecht sich durch die Menschheit. Oder die Menschheit sich durch sich selbst.

Aufhören!

Du meinst also, wenn man etwas anderes an die oberste Stelle setzte, käme etwas anderes heraus? 

Oha.

Aber das meint der Oberlehrerhafte nicht. Oder meint er es doch? Da ist etwas, das hat mit dem Setzen zu tun. Aber er kriegt es nicht heraus. Niemals. Je mehr er darüber redet, desto schlimmer wird es.  

Der Sekretär blättert in seinen Papieren.  Es geht ihm nicht nur um den Fortschritt, er muss ihn auch dokumentieren. Um die Fortpflanzung einzufangen, schlägt er Zwie-schlecht vor, mit Rücksicht auf die zweierlei Anteile, die dazu erforderlich sind. Dann kann man Ge-schlecht für alles andere reservieren. 

So bliebe uns Geschlecht erhalten, und wir müssten nicht so viel ändern.

Dann lieber gleich Gender. Ge-schlecht, wie sieht das denn aus?

Nein, Zwie-schlecht für die Fortpflanzung und Ge-schlecht für alles andere. So könnte es auch in die Personalpapiere eingetragen werden. 

Aber was meint das: Ge-schlecht?

Nur mal als Beispiel, bittet einer: Was könnte da stehen?

Nichts, was man eintragen könnte, sagt der Sekretär weise. Aber entweder wir führen beide Rubriken auf oder keine. Keine geht auch. Wobei man etwas bedenken muss.

Hä?

Erbfolge, sagt er. Lassen wir die bei Zwie-schlecht oder nehmen wir sie zu Gender hinüber? Im ersteren Fall bleibt viel ungebundenes Vermögen übrig, das womöglich Unruhen unter den Menschen bewirkt. Im letzteren Fall sehe ich noch nicht, woran man es festmachen kann.

Und, setzt er mit erhobener Stimme hinzu, ob es willkommen ist. Wer lässt sich schon gern auf sein Vermögen reduzieren!

Erben will jeder, der Sekretär seufzt. Aber als Erbe firmieren tut keiner gern. Im Fall einer Neuordnung dürfen wir also nicht vergessen, dass  wir für den Besitz einen Unterschlupf finden müssen.

Mit diesem wenig göttlichen Schluss schließt er. Gott, kommt ihm vor, hat schon ein Gesicht gezogen. Hat er, der Sekretär, aus seinem Tempel eine Räuberhöhle gemacht? Nichts lag ihm ferner, aber Ordnung muss sein, und ohne eine gewisse Voraussicht geht es auch nicht. 

Eine Weile hört man von den Stühlen nur ein Scharren, von den Männern Räuspern und Husten. Keine lustige Bemerkung. Kein Bonmot und schon gar kein zündender Gedanke. Der Sekretär in Gedanken: Keine Interaktion.

Und wo ist der Oberlehrerhafte abgeblieben? Hat sich verduftet. War ihm zu langweilig, das mit den Zahlen.

Gott hievt sich aus dem Stuhl. 

Also gut, sagt er. Wenn wir für die zu erörternden Fragen falsch zusammengesetzt sind, dann müssen wir uns eben anders zusammensetzen. 

Prompt stehen alle auf.

Wir können ja abstimmen, sagt der Sekretär. Aber seine Stimme klingt schwächlich.

Sie stimmen mit den Füßen ab, sagt Gott, der für Situationskomik mehr Sinn hat als der Sekretär. 

Dafür hat der den Vorschlag notiert.

Achte Sitzung

Am nächsten Morgen sind sie wieder da. Es gibt Lücken, aber man sieht keine neuen Gesichter. Die Frauen haben gemauert, und die mit den Buchstaben sind nicht eingeladen worden.

Warum hat man sie nicht eingeladen? Weil sie gekommen wären.

Das ist auch ein Grund.

Schwamm drüber, sagt der Sekretär, Zwie-schlecht. Wer ist dafür?

Melden sich einige, doch, doch.

Ge-schlecht? Schweigen.

Gender? Zu kompliziert. Wir lassen uns doch von der Wissenschaft den Alltag nicht vermiesen.

Erbfolge?

Da ist es wieder. Um was geht es dabei überhaupt? 

Na, um das, was übrigbleibt. Was man nicht mit ins Grab nehmen kann. Mann, verstehste nich?

Entweder wir lassen es bei den Familien, will sagen bei den Zwie-schlechtigen, weil sie die einzigen sind, die etwas weitergeben wollen, auch die einzigen, die es in geordneter Weise übergeben können. Oder wir lassen es an die Allgemeinheit zurückfallen, aus der es hervorgegangen ist. Oder aber wir vernichten es, was auch nicht das Dümmste ist. Potlatch, sag ich nur. Hat sich durchaus bewährt.

Gott fährt dazwischen. Mit hartem Knöchel klopft er auf den Tisch.

Solange ich Gott bin, sagt er.

Solange du Gott bist, denkt der Sekretär. Laut sagt er: 

Gott meint, solange er Gott ist, denken wir über Ökonomisches ökonomisch und über das andere anders nach. Kapiert?

Die Leseratte hebt den Kopf vom Buch. Der mit dem Kindergemüt ist hochgeschreckt. Man weiß nicht, ob weil Gott laut oder weil es plötzlich still geworden ist. Der Oberlehrerhafte hat den Raum betreten. Die Ähnlichkeit mit der Morra ist jetzt unverkennbar. Komisch, dass sie das vorher nicht gesehen haben.

Die Morra? Auch so eine Legende. Aber vermutlich älter als Gott. Im nördlichen Eis konserviert. 

Konserviert und älter? Das klingt gefährlich.

Wir haben alles richtig gemacht, sagt der Oberlehrerhafte. Ihn wundert`s nicht, geschah es doch unter seiner Anleitung. Uns ist nur nicht klar, was wir gemacht haben. Bei einem Spaziergang ist es mir klar geworden.

Der Sekretär spitzt den Stift. Die Anwesenden schauen auf den Redner. War er schon immer ganz in Schwarz, oder hat er sich für die letzte Sitzung umgezogen? Und der Umhang? So etwas trägt man schon lange nicht mehr. Er ist durchscheinend, flatterig, mehr Wind als Kleidung. Ganz sicher wärmt er nicht. Sie frösteln.

Wir wollten verstehen, sagt er. Er sieht an sich herab. Verstehen heißt verwesen, ähem. Er schaut auf Gott.

Wir wollten verstehen, sagt der Sekretär, warum die Gesellschaft es nicht verkraftet hat, dass die Frauen das Verhältnis von Mann und Frau zu ihren Gunsten ändern wollten. Da ist doch nichts dabei. Und trotzdem stehen wir vor einem Scherbenhaufen.

Gott würde am liebsten gar nichts sagen. Gesellschaft, Geschlecht: Diese Wörter in den Mund nehmen müssen − puh! Er kennt auch kein Mehr oder Weniger, kein Besser oder Schlechter. Aber er hat eine Verantwortung.

Vielleicht ist es gar nicht so schlimm, sagt er, und wir sollten die Menschen einfach beruhigen.

Logisch betrachtet, sagt der Oberlehrerhafte, sieht es so aus: Dadurch dass die Frauen etwas wollen, lösen sie es auf. Einen deutlicheren Hinweis kann es nicht geben.

Hinweis? Worauf?

Dass etwas aufhört. Man verwechselt das leicht mit Beginn. Aber es ist ein Aufhören. Er blickt an sich herunter, auch jeder der Anwesenden auf die schattenhafte Gestalt. Sie reiben sich die Augen. Ist er noch da?

Gott weiß: Jetzt oder nie. 

Hiermit erkläre ich die Untersuchung für beendet, sagt er. Mit dem charmantesten Lächeln, das ihm zur Verfügung steht: Wir könnten unter freiem Himmel noch ein Gläschen trinken, die Vergangenheit feiern, auf die Zukunft anstoßen.

Wir müssen uns anders zusammensetzen, grübelt er im Hinausgehen.

Er weiß noch nicht, wie, aber das nächste Mal ist er nicht dabei.

Und der Oberlehrerhafte? Der Sekretär? 

Schranzen, denkt er.

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Dieser Beitrag wurde am 31. Oktober 2020 veröffentlicht. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink. 1 Kommentar

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