Ein Lob des Fehlschlusses und eine kleine Ablenkung in miesen Zeiten von Gastprinzessin Ilse Bindseil
Im Alter vermehren sich die Fehlschlüsse. Das Gehirn ist nun mal schneller als die Sinne, so empfinde ich es. Ich könnte es auch anders beschreiben: So vollgestopft ist es mit früheren Erlebnissen, dass es als sein eigener Reiz-Reaktions-Apparat funktioniert. Die Außenwelt hat kaum „ping“ gemacht, schon sagt es im Gehirn: „Pong“.
Muss ich erwähnen, dass die Angebote, die das Gehirn bereithält, durchweg interessanter, lustiger, auch spannender sind als das, was die Sinne aufschnappen? Es überdauert im Gehirn ja nur, was auf Unverarbeitetes, Dramatisches verweist. Das müsste ich jemandem erzählen, denke ich dann. Wie es im Kinderbuch heißt: Oh, ist das lustig, oh, ist das lustig!
Auf der Fahrt durch Würzburg sehe ich einen Wegweiser: „Gefährliche Reha.“ Soll ich das Navi ausschalten und dem verführerischen Schild folgen? Oder umdrehen und sehen, was wirklich drauf steht? Umdrehen im Straßenverkehr? Das war gestern. Aber zwei, drei Straßenecken weiter korrigiert sich die Angabe selbst (alle Wege führen nach Rom): „Geriatrische Reha.“ Schade. Enttäuscht analysiere ich, was das ist, was mein Gehirn produziert: Gags! Ein Gag, kriege ich heraus, ist etwas außerordentlich Signifikantes, etwas mit einem Übermaß an Bedeutung und einem, wenn man es denn messen könnte, Untermaß, einer Null, an Inhalt.
Nicht selten kommt es bei mir zu ganzen Ketten von Richtigstellungen. Immer wieder klopft die Realität an, und immer ist das Gehirn schneller:
„Hemden innen“, lese ich im bemerkenswerten Roman „Der vierte Versuch“ von Catherine O’Flynn (Zürich, Berlin 2011) und denke im ersten Schluss: Hier ist das Sternchen vergessen worden. Im zweiten: Wusste gar nicht, dass auch Dinge gegendert werden – oder Neutra? Meine ich Dinge? Oder meine ich ihr Geschlecht? Was meine ich eigentlich? War aber bereits bei der grammatischen Frage, ob es, wenn schon, dann nicht Hemd*innen heißen müsste, hängen geblieben und das Folgende hat sich hoffnungslos verwirrt. Typisch.
„Man sieht nur mit dem Herzen gut“ (Der kleine Prinz) . Trotzdem schlage ich das Buch von Catherine O’Flynn auf S 270 auf: „ … die Kollektion Mäntel innen an der Tür war geschrumpft.“ Ein Zeilensprung nach „innen“ hat den Gedankensprung ausgelöst. Aber bevor erleichtertes Grinsen sich breitmachen kann, zücke ich schon wieder den Stift. Das Sternchen hat sich erledigt, aber da war doch noch was. Personen können sich wehren, Dinge gerettet werden. Aber was ist mit der Sprache? „Innen“ ist ein Adverb und hat eine selbständige Bedeutung!
Hände weg vom Adverb, schreibe ich mir ins Gehirn, gleich neben die gefährliche Reha. Rettet die adverbiale Bestimmung des Ortes!
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