In diesen Tagen vor 20 Jahren endete ein furchtbar nerviger Zustand mit der Besetzung der Tageszeitung „junge Welt“ durch die Mehrheit der Redaktion – und auf einmal war eine neue linke Wochenzeitung da. Aber wie kam es eigentlich dazu? Ein strikt subjektiver Rückblick von Elke Wittich
Zu einem günstigeren Zeitpunkt hätte das alles nicht passieren können: Es wurde langsam Sommer und ich hatte gerade ausgerechnet, dass ich insgesamt zwei Monate meines Lebens, also 1440 Stunden, in den Redaktionsräumen verbracht hatte.
Das bedeutete: 1440 Stunden matschfarbenes DDR-Ambiente, abgenutztes Linoleum-Imitat auf dem endlosen Flur, Schreiereien, veraltetes technisches Equipment (als das BKA mal kam, um dann doch nie genutztes Beweismaterial gegen einen Kollegen zu beschlagnahmen, nahm es seinen Rechner gleich auch mit, weil es sonst keine Möglichkeiten gehabt hätte, die konfiszierten riesigen Floppys auszulesen), Ostzonenverherrlichung und, natürlich, scheußlichster Kaffee.
Dazu kamen diese endlosen Konferenzen, aus unerfindlichen Gründen Sitzungen genannt: Punkt neun – und wehe, man kam später – begann die Morgensitzung, auf der die anstehenden Themen und Pläne besprochen wurden. So gesehen. In Wirklichkeit wurde vor allem politgegockelt. Unausgeschlafen bei einer Tasse scheußlichstem Kaffee dazusitzen und zuzuhören, wie der Dingens und der Dangens und manchmal auch der Dongens dozierten und die Welt erklärten und sich gegenseitig erbost ins Wort fielen und Vorwürfe machten, die später zugespitzt formuliert auf der Kommentarseite landeten, war auch im verklärenden Rückblick nur mäßig interessant.
Mit anderen Worten: Ich hatte genug und wollte lieber lange in Urlaub fahren als noch länger dort sein.
Zumal sich abzeichnete, dass die immer wieder so mühsam kompromissverkleisterten Unterschiede zwischen den einzelnen Fraktionen der Redaktion irgendwann, also irgendwann im Sinne von bald, zum ganz großen Knall führen würden.
Der dann auch kam. Er begann meiner Erinnerung nach mit einem Vorfall bei einer Bauarbeiterdemo gegen ausländische Kollegen (bzw formal gegen Lohndumping), bei dem besagte ausländische Kollegen von Gewerkschaftern regelrecht gejagt wurden. Die einen in der Redaktion standen treu und fest zur deutschen Arbeiterklasse, die anderen fanden den Vorfall dagegen eindeutig rassistisch, auf jeden Fall wurde in den folgenden Tagen ausgiebig geschrien und sich profiliert.
Ab diesem Zeitpunkt ist meine Erinnerung lückenhaft.
Irgendwann jedenfalls rief der, wie sich nur wenig später herausstellte, Eigentümer des Blatts, von dem bis dahin angenommen wurde, es gehöre irgendwie allen, eine abendliche Versammlung ein. Und verkündete, der bisherige Chefredakteur sei abgesetzt. Vorab und danach gab es immense Aufregung und viele Tränen. Und viel Pathos, vielleicht war dies die Versammlung, die einer der jW-Politstars dazu genutzt hatte, uns das Warten auf die Protagonisten mit einer ausgesprochen langen Vorlesung aus Rosa Luxemburgs Briefen zu vertreiben. Vielleicht aber auch nicht. Wie auch immer, das war enervierend, aber niemand traute sich „Jetzt halt doch einfach mal die Klappe“ zu sagen.
Ich bin dann anschließend wohl zusammen mit meinem Freund Axel für ein paar Tage an die West-Ostsee gefahren. Die, sagen wir: Schwiegermutter, die immerhin jahrzehntelang in Skandinavien lebte, hatte bei der Buchung allerdings nicht so genau hingeguckt und gedacht, die Ferienwohnung liege im „Beskjeden-Hus“. Von wegen. Wir wohnten im Beskiden-Haus, also praktisch mittendrin im ganz großen Wehklagen um die „verlorengegangen deutschen Ostgebiete“, und das in einem Appartement, das sich am besten als Revanchismus mit Schrankwänden beschreiben lässt.
Es war furchtbar, aber das Wetter war schön und die Ostsee angenehm temperiert und ansonsten alles gut.
Bis dann dieser Anruf kam. Ganz aufgeregt hatte die Heimatvertriebene geklingelt und gesagt, es habe ein junger Mann angerufen und es sei ein Notfall auf der Arbeit und so genau habe sie allerdings nicht verstanden, worum es gehe.
Immerhin (wir reden von der finsteren Prä-Handy-Zeit), es gab eine Telefonzelle im Ort. Und von dort aus wurde Sportchef Martin Krauss angerufen, der mitteilte, es sei jetzt ganz wichtig, dass alle dem Chefredakteur ihr Vertrauen aussprächen. „Kann ich nicht, ich kann ihn nicht ausstehen“, anwortete ich wahrheitsgemäß, und dann wurde hin und her verhandelt, bis das Kleingeld alle war und neues besorgt werden musste. Irgendwann war mir dann aber alles egal, weil ich zum Strand wollte und deswegen war ich halt schließlich solidarisch – so profan kann das manchmal sein.
In der nächsten Folge geht es um eine Abstimmung, von der ich bis heute nicht verstanden habe, warum wir ihr ferngeblieben sind, den Beginn der Besetzung, einen verwirrten Bademeister, eine Original-Honecker-Sitzecke und dieses und jenes. Plus Fotos von damals 🙂
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