20 Jahre Jungle World – ein Rückblick. Teil 2: Viel Herumgesitze und eine Besetzung

Screen Shot 2017-06-01 at 01.19.12Wenig überraschend war es in diesen Tagen vor 20 Jahren zum endgültigen Bruch zwischen den unterschiedlichen Fraktionen in der jW-Redaktion gekommen. Und dann wurde die „Jungle World“ gegründet. Ein strikt subjektiver Rückblick von Elke Wittich

Was bisher geschah, können Sie hier nachlesen.

Der Tag, der damit enden würde, dass die Mehrheit der Redakteure die Redaktion der jW besetzte, begann um 9 Uhr, was auch sonst.

Ich musste die Blattkritik machen, etwas, das ich zutiefst verabscheute, denn meistens wurde unter den jeweiligen Politmachos der unterschiedlichen Fraktionen vorher abgesprochen, welcher Text aus strategischen Gründen zu loben oder zu verreißen war.
Wenn man nicht dazugehörte, also im Prinzip laut deren Ansicht bloß dazu da war, den Platz zwischen den hochwichtigen Kommentaren und Artikeln vollzuschreiben, damit ihre Fans was zum Umblättern hatten, hatte man gute Chancen, einen Text von jemandem positiv hervorzuheben, der gerade aus irgendwelchen Gründen in Ungnade gefallen war. Und noch bevor es 10 Uhr war, angeschrien zu werden.

Aber an dem Tag war alles anders. Ich sagte, sehr unengagiert, ein paar Sätze und „Das ist doch Quatsch, das interessiert doch echt niemanden mehr„, alle nickten und dann saßen wir da und tranken scheußlichsten Kaffee.
Die Nationalbolschewisten, wie sie liebevoll genannt wurden, waren zur Konferenz gar nicht erst gekommen. Sportchef Martin hatte frei, also gingen bloß Praktikant George und ich anschließend ins Ressort, um dort bis 13 Uhr entspannt herumzusitzen und uns an der Honecker-Sitzgarnitur zu erfreuen.

Mielke-Autogramm

Mielke-Autogramm

Für die Buchhaltung war nämlich ein richtig echter ehemaliger Stasi-Offizier zuständig, der in seiner Freizeit auf den aus der Haft entlassenen Erich Mielke aufpasste. Irgendwann hatte er mich mal konspirativ dazu aufgefordert, ihm am nächsten Tag mein Mini-Buch über den BFC Dynamo mitzubringen, das ich für Einsfuffzich auf dem Flohmarkt gekauft hatte.
Kurz darauf erhielt ich es zurück, drin stand nun ein Autogramm von Erich Mielke persönlich.

Irgendwie so ähnlich war das Sportressort auch in den Besitz von Teilen der Original-Sitzgarnitur von Erich Honecker gekommen, die bis 1989 in Wandlitz gewohnt hatte.

Weil alles so schrecklich war, hatten wir zuvor begonnen, den beigebraun befußbodeten und beschrankten Raum wohnlich herzurichten, zuerst mit einem Kassettenrekorder. Aufgrund unüberbrückbarer musikalischer Differenzen wurde dann ein Musikplan erstellt und ausgehängt, an den wir uns strikt hielten, meistens jedenfalls. Ich garnierte das DDR-Furnier zusätzlich mit jeder Menge Deckchen und Krams, hochironisch natürlich, aber ob das wirklich alle auch so verstanden, blieb bis zuletzt unklar.

Ivo, Fernseher und Honeckers Sessel

Ivo, Fernseher und Honeckers Sessel

Irgendwann kam ein Fernseher dazu, was sehr gut war, denn draußen war feindlich, und so konnten wir den ganzen Tag dasitzen, lieben Besuch aus den anderen Ressorts empfangen und ihm ein umfassendes Unterhaltungsprogramm bieten – geraucht werden durfte bei uns auch.
Wir hatten ja außerdem viel Zeit, denn wir waren damals schon Schnellschreiber, und deswegen reichte es, wenn wir eine Stunde vor dem Abgabetermin, also so gegen 13 Uhr, anfingen, die Seiten fertigzumachen.

An diesem Morgen saßen George und ich also zunächst herum und fragten uns, warum zur Hölle wir eigentlich dafür immer so früh aufstehen mussten. Bis irgendwann die Nachricht kam, dass der Zeitungsinhaber für abends, nach der Produktion, eine Sitzung angesetzt hatte.
Ich ging ins Büro nebenan, wo der Chefredakteur und der Politgockel Numero Uno sehr aufgeregt darüber diskutierten, was davon zu halten sei.
Frag sie doch“ sagte plötzlich der eine zum anderen (während er auf mich deutete), in diesem speziellen Tonfall, der vordergründig echtes Interesse zeigen sollte, in Wirklichkeit aber „Komm, lass mal Doofie fragen“ meinte.
Dabei war nun wirklich klar, was da gerade passierte: Der Plan war, uns die aktuelle Ausgabe fertigmachen zu lassen und wenn die im Druck war und wir also keine Möglichkeit mehr haben würden, die Leser zu erreichen, das zu tun, was man vorhatte, vermutlich also uns alle rauszuwerfen.
Was ich eigentlich keine schlechte Idee fand, denn dann würde ich praktisch sofort nach Norwegen fahren können

Aber nun war die Situation halt, wie die Situation eben war und deswegen war solidarische Aufregung angesagt. Und Martin zu benachrichtigen, dass er umgehend kommen müsse.
In der Zwischenzeit versah ich einen Sporttext mit der unglaublich anspielungsreichen Schlagzeile „Das Märchen vom Aufstieg des Ortsvereins“, die aber niemand so wirklich kapierte und von der ich heute auch gar nicht mehr sicher weiß, auf was sie eigentlich anspielte. Die meisten anderen machten Ähnliches, was auch niemand kapierte, und dann wurde viel herumgesessen.

Halt nein, das stimmt nicht ganz. Es gab nämlich ein unmittelbar zu lösendes Problem: Axel war mit seinem Kumpel Chris im Prinzenbad, und irgendwie musste ich ihm sagen, dass ich die beiden nicht mit dem Auto abholen können würde. Bloß wie? (Wir erinnern uns: Finstere Prä-Handy-Zeiten)

Um es kurz zu machen: Ich überzeugte die Pressestelle der Berliner Bäderbetriebe, mir die streng geheime Nummer des Bademeisters vom Prinzenbad zu geben.
Und anschließend ihn von der immensen Wichtigkeit einer Lautsprecherdurchsage an Axel. Das dauerte ein wenig, und ein bisschen peinlich war es mir auch, aber auf Einzelschicksale kann in revolutionären Zeiten einfach keine Rücksicht genommen werden.

Ich redete jedenfalls lange. Ob er das alles verstanden habe? Ja, rekapitulierte der Bademeister etwas ermattet, „Axel ausrufen, ihm dann sagen, dass die junge Welt besetzt wurde, kann lange dauernd, und dass er dorthin kommen soll. Verstanden.“
Darüber, was danach geschah, gehen die Schilderungen der unmittelbar Beteiligten auseinander, der Bademeister schwor, sich wie angewiesen verhalten zu haben, aber es habe keine Reaktion gegeben, Axel jedoch sagte, nix gehört zu haben, was ja aber vielleicht auch nur am Grundgeräuschpegel des Schwimmbads lag.

Nur wenige Stunden später war der große Versammlungs-Moment auch schon gekommen.
An viel erinnere ich mich nicht mehr. Der Zeitungsbesitzer hielt einen kleinen Vortrag, der nicht gut ankam, anschließend wurde ausgiebig geschrien.

Und wir sind nicht nach Hause gegangen. Warum das irgendjemanden überraschte, wundert mich noch heute.
Die Fraktion um den Zeitungsbesitzer zog sich in den mitten auf der jW-Etage liegenden Produktionsraum zurück, was strategisch ein völlig blödsinniger Move war, denn nun saßen sie dort und trauten sich nicht heraus, weil überall sonst wir waren und wir dementsprechend auch den Eingang kontrollierten.

Aber immerhin, sie konnten telefonieren, was der Stasi-Offizier dazu nutzte, seine Kumpels herbeizuzitieren. Befürchtungen, dass nun eine schlagkräftige Tschekisten-Truppe anrücken würde, zerstreuten sich aber rasch, es kamen bloß ein paar alte Männer, die ihm mit dem Spanienkämpfer-Gruß Hallo sagten und ansonsten ein bisschen herumpöbelten. Außerdem wurde etwas geschubst.

Die Nationalbolschewiken gaben schließlich auf und wir hatten die Räume für uns allein. Nett und ruhig endete der Tag allerdings nicht, denn ein älterer Österreicher, ein Freund von jW-Auslandschef Werner Pirker, hatte sich auf Telefonterror verlegt.

Zunächst belästigte er den Chefredakteur, den er übelst beschimpfte. Als ihm das zu langweilig wurde, rief er bei uns im Sportressort an und sagte, als ich abhob, unter anderem: „Host schon mal a Messer in der Votzn ghobt?
Das ging ja super los.

Aber irgendwann war Ruhe. Martin richtete sich auf den Honeckers ein und deckte sich mit einer großen Dynamo-Fahne zu. Und ich fuhr mit Axel nach Hause, ausschlafen.

Im nächsten Teil wird es um viel Solidarität, einen Videokassetten-Dieb, die Vorteile des späten Aufstehens, Modrows Hand, warum die Jungle World Jungle World heißt, und diesmal aber wirklich um die Abstimmung, von der ich nie verstand, warum wir ihr ferngeblieben sind, gehen.

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