4. Folge einer Miniserie von unserer Gastprinzessin Ilse Bindseil
Es sei nicht ihrs, sagte sie aufgebracht, und ein Gesäß könne man es auch nicht nennen, sonst wüsste sie, worauf sie sitzt, auf ihren Schenkeln oder auf ihrem Rücken. Das sei ihr schon ewig ein Rätsel gewesen. Stundenlang habe sie vor dem Affenschaufenster ausgeharrt, um wenigstens diese Frage zu klären.
Wäre es ihrs, ginge es nach vorne raus und nicht nach hinten. Ein Hintern sei es für die andern, die es üblen Bezeichnungen bedenken. Den eigenen rückt er ihnen nach vorne, sozusagen in Griffnähe.
Aber sie erinnere sich an ein herrliches Foto aus Kindertagen: Sie und ihre Freundin am Strand wie griechische Helden, splitterfasernackt vor dem tiefblauen Himmel, der Rücken durchgestreckt, der Arm nach hinten gebogen, die Hand nach dem rundlichen Ziel ausgestreckt. Als Kind hat man ihr immer gesagt, sie solle sich nicht im Po bohren. Nun tun es … Sie schwieg verdutzt.
Ihre Nachbarin trägt gehörig zur Verwirrung bei. Glücklicherweise sind Sie untenrum gepolstert, sagt sie und äugt auf ihr Gesäß. Sie könne immer nicht darauf antworten. Vorne, hinten, oben, und jetzt auch noch rum. Sie frage sich: Wie kann man sich zu etwas verhalten, wovon man nicht einmal die simpelsten Koordinaten kennt? Wie kann es so etwas überhaupt geben?
Einmal diesen Gedanken gefasst, könne man ihn gar nicht mehr loslassen. Karikaturisten der ganzen Welt, möchte sie rufen, strengt euch gefälligst an und zaubert die Grundform des Menschen aufs Papier, damit auch andere das Unmögliche daran erkennen. Ein Stoßmich-Ziehdich eigener Art, weist sein Gesicht in die eine, sein Hintern in die andere Richtung. Es stecke eine Unentschlossenheit und Doppelbödigkeit darin: nach vorne schauen und nach hinten winken. Wie die Philosophen sagen: vorne sein und hinten existieren. Sie selbst erlebe ihn lebendiger: Wie ein quengelndes Kind an der Hand seiner Mutter, so lasse er sich hinter ihr herziehen, folge ihr wie die abgewandte Seite des Mondes dem Mond und mache Mätzchen hinter ihrem Rücken.
Ja, wäre der Mensch ein Kamel! Sie sage ausdrücklich: Wenn. Ohne Hintern und ohne Schönheit, hat es doch einen Gang. Sie stelle sich vor, der vordere Höcker sei sein Haupt, der hintere sein Hintern, dazwischen sie, sanft geschaukelt wie in einer Sänfte. Der Kopf des Kamels ein Wimpel. Lustig flattert er im Wüstenwind. Technisch Interessierte dürfen ein Radar darin vermuten, ein Sensorium für Gerüche, Geräusche und Bewegungen. Sie begnüge sich mit dem Signal: Heißa, ich bin da!
Anders der Hund, der seinem Schwanz hinterher jagt. Sich um sich selbst drehen, nur um einen Blick auf sein Hinterteil zu erhaschen: Sie weigere sich, da mitzutun. Verachtung und Ohnmacht hielten sich dabei die Waage, ein Soll-es-doch-machen-was-es will und ein Ist-doch-sowieso-nichts-los-da-hinten. Dass man sich im Fitnesscenter einen neuen Po anschaffe, verstehe sie dagegen, auch wenn sie nicht so aussehe, als wenn sie das verstehen könne. Der gemachte sei nun einmal der eigene. Nichts Dämonisches hafte ihm an. Fremd, im Wortsinn abstoßend, sei er nur für die, die auf Unvollkommenheit als Anknüpfungspunkt für ihr eigenes Interesse angewiesen sind.
Für sie sei das zu kompliziert: etwas bearbeiten, wozu ihr der Bezug fehlt. Aber schlankweg begeistert war sie von der Kriegslist des Königs Babar, der seinen Elefanten Augen auf die Hinterbacken malen und rote und grüne Pflanzenwedel als Pony in die Stirn hängen ließ und ihnen einen karottenroten Schwanz als Nase ins Gesicht zauberte, so dass die feindlichen Nashörner, die das Hinterteil für den Kopf hielten, vor den riesigen Gegnern Reißaus nahmen. So etwas würde sie auch gern machen. Den Po anmalen, bis er furchtbar schön und schrecklich aussieht. Das würde ihr Spaß machen. Aber dafür müsste sie den Kopf frei haben wie Babar, der von der Hochzeitsreise zurückkehrte, auf der er die Welt gesehen und das Menschenmögliche erlebt hatte. Sie, dagegen, habe ihn noch nie frei gehabt. Eine unüberwindliche Scheu hindere sie daran, sich mit dem Körper ihrer Mitmenschen zu beschäftigen. Wäre es zum Beispiel möglich, das sage sie hinter vorgehaltener Hand, dass nur die Frauen ein Hinterteil haben oder nur die Männer? Um solchem Detailwissen zu entgehen, sehe sie nicht so genau hin, und darum bleibe der Po für sie im Ganzen ein Rätsel. Terra incognita, wie die Entdecker sagten, die lediglich wissen wollten, ob am Ende der Welt Kokospalmen wachsen oder nicht, und dann bekamen sie das Ganze serviert. Sie wolle vielleicht nur das eine nicht wissen, und darum, na, wir wüssten schon.
Aber bei den Primaten im Affenhaus könne sie sich nicht genug verwundern. Sie haben einen verlängerten Rücken, ganz so, als hätte die Redewendung es auf sie abgesehen. Pobacken haben sie auch, das hatte sie bislang übersehen. Aber ein Phänomen von einem verlängerten Rücken haben sie! Jetzt mal nur aufs Gerade geachtet. Sie frage sich, wie setzen sie sich, wo knicken sie ein? Sie wissen es nicht, aber sie setzen sich trotzdem. Wie können sie, wenn sie nicht wissen wo. Sie steht vor der Glasscheibe und knickt versuchsweise ein. Oder sie setzt sich auf die Bank. Aber aus der Entfernung sieht sie die Affen schlecht, und schlauer wird sie auch nicht. Ob es bei ihr anders ist als bei den Primaten oder genauso, kriege sie nicht raus. Da gebe es ein Gelenk, das sie nicht kennt. Aber die Menschenaffen auch nicht.
Sie habe uns noch nicht erzählt, dass sie als Erwachsene eine Löwin aus der Reihe Zootiere von Playmobil liebte. In hochelegantem Wüstengelb, falb, konnte sie nach Belieben stehen und gehen. Leider habe die Löwin frühzeitig ein Bein verloren, und das war eine ziemliche Enttäuschung, galt Playmobil doch als unzerbrechlich. War es ja auch, nur bei den Gelenken hatte es gehakt. Sie hätten sie dann an der kaputten Seite angelehnt, damit sie noch mitspielen konnte, aber das Bein habe nur ewig zwischen den Bauteilen herumgelegen. Zum Wegschmeißen zu vollkommen, zum Reparieren, da Playmobil stets auf Patentlösungen setzte, ungeeignet, hätte man es aus dem Gedächtnis tilgen müssen, um es loszuwerden. Sie hatte es nur immer mal in die Hand genommen. Auf der Innenseite war es platt, das war hässlich, aber zweifellos das Geheimnis seiner Beweglichkeit. Sie hatte das komische Gefühl, an der Schwelle einer Einsicht zu stehen, die über den Mechanismus hinausging. Sie wolle uns um Himmels nicht schockieren, aber wenn man ein Lebewesen, Tier oder Mensch, an den Beinen auseinander reiße, dann sehe man, dass es nur Beine habe und einen Rücken, aber praktisch keinen Hintern. Man denke nur an Hähnchenschenkel. Mit oder ohne Rückenstück? Bitte mit.
Frau S. erhob sich schnaufend. Sie lächelte. Liebe sei nur ein Wort, sagte sie feierlich. Deshalb gebe es auch hundert Wörter. Aber auch der Hintern sei nur ein Wort. Was müsse er sich aus seiner Umgebung alles zusammenklauben, um zu existieren! Ihr liege näher zu sagen: Warum wurde unter einem einzigen Namen zusammengefasst, was als Bestandteil mehrerer Namen längst eine geordnete Existenz hatte! Was sie dabei beschäftige: Wurde er so wichtig, dass man zur Einzahl greifen musste, um ihn, wie es in den schlauen Büchern hieß, darstellen zu können, und da stelle sich natürlich die Frage wodurch? Sie überlasse diese Frage den Psychologen, bei sich nenne sie sie auch – hier offenbarte Frau S. eine unerwartete Tücke – die Stoffwechselmythologen. Sie selbst interessiere sich mehr für die Frage, ob die Einzahl die Entwicklung nicht befördert habe. Das könne sie sich nämlich vorstellen, dass der Hintern unter der fokussierenden Betrachtung gewachsen sei, dass er sich, sie wolle nicht sagen den Schimpf- oder Kosewörtern entgegen gereckt, aber proportional zu ihnen vergrößert habe. Dabei sei er aber nie eins geworden, dafür stehe sie ein, oder gar etwas, das der liebe Gott als Ding oder Lebewesen schuf. Allenfalls ein Ersatz für das, womit sich die schon erwähnten Psychologen beschäftigten. Ein solcher sei schwer zu bändigen, jeder für sich und die Psychologie für uns alle könne ein Lied davon singen. Was den Hintern betreffe, sei nur der Herrenschneider dazu imstande, der Schneider ihres Vaters, zum Beispiel, der frühzeitig gebeugt ging. Ein Defekt im Rückgrat hatte ihn motiviert, das Geheimnis der Gestalt bei anderen zu durchdringen, die sich mühelos aufrecht hielten. Das Maßband künstlerisch um den Hals drapiert, ging er um den Kunden herum, seine Rückseite ehrend. Das Gesäß – das Wort nahm er mühelos in den Mund – fing er ein. Er schuf ihm Raum, damit es nicht ausbüxte, sollte sein Träger sich setzen wollen. Sein Geheimnis war: Indem er mit ihm Platz ließ, wurde es praktisch unsichtbar. Mehr noch, das Knochenlose wurde zu einem kostbaren Element der Statik, einer Säule der Person. Was für ein Wunder!
Aus diesem Grund komme der Herrenschneider für sie gleich nach dem lieben Gott. Sie könnte jetzt sentimental werden und sagen: auch weil er sich nie für sie interessiert habe. Immerhin, sie habe sich gerächt, indem sie sich Gedanken gemacht habe, die ihr nicht zustanden, und auf Terrains gewagt, die andere besetzt hielten. Heimlich und leise, so die Zauberformel all derer, die aus dem Nichts Gold schufen, bemächtige sie sich der Welt, und siehe da – Frau S. riskierte einen freien Blick in die Runde −, niemand mache sie ihr streitig.
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Ilse Bindseil schreibt kommentarlos diese Sätze ihrer Erzählheldin auf:
„Liebe sei nur ein Wort, sagte sie feierlich. Deshalb gebe es auch hundert Wörter.“
Wenn Frau Bindseil dies nicht kommentieren mag, muß ich wohl ran. Es gibt nämlich – nachgewiesen! – mehr als hundert Wörter. Allein im Deutschen sogar mehr als hundertTAUSEND Wörter.
Eventuell und andererseits gibt es nicht mehr als hundert Synonyme für das Wort „Liebe“. Aber wenn DAS gemeint war, hätte Ilse Bindseil es doch auch schreiben können. Es hätte ihrer – völlig pointenfreien und eindrucksvoll einschläfernden – Erzählung gewiß nicht geschadet.