Frau S. äußert sich … über ihr Gesicht

3. Folge einer Miniserie von unserer Gastprinzessin Ilse Bindseil

Sie habe es nicht gewusst, aber jetzt wisse sie es, und mit einem Schlag seien alle ihre Fragen beantwortet: warum die Frauen stundenlang vor dem Spiegel verweilen, um sich zu betrachten, warum sie sich herrichten, warum sie etwas aus sich machen, was doch ein Etwas und keine Frau sei oder ein Bildnis, aber kein Mensch, eine, wie ihr spießiger Vater gesagt hätte, Maske, aber kein Gesicht. Wenn die Dinge in der Welt sind, könne man von ihnen nicht mehr absehen, denn eins sei ihnen nicht abzusprechen, dass sie existieren. Ein Gesicht aber existiert nicht. Denn bei einem Gesicht gehört es nun mal zur Definition, dass sich jemand darin erkennt, dass er es für sich reklamiert. Wogegen es bei anderen Gegenständen durchaus reichen würde zu sagen, ein Fön, und sogar bei einem Bein reichen würde zu sagen, ein Bein. Gerade beim Gesicht aber sei es so, dass niemand mit Gewissheit sagen könne, meins. Wenn es zum Beispiel  wie ein Gegenstand in die Höhe gehalten wird: Wem seins ist das? Sie zumindest müsse hier passen, weil sie zu selten prüfend in den Spiegel schaue und ihr Gesicht, seit sie ein junges Mädchen war, auch nicht mehr bearbeitet habe, was zweifellos ein Verfahren sei, dem eigenen Gesicht näher zu kommen. Man müsse sich eben damit befassen. Sie könne sich schon vorstellen zu sagen: Ich. Aber das sei die Antwort auf die Frage: Wer? Diese Frage sei immer schon abstrakt und die Antwort, solange man nicht komplett verstört sei, entsprechend einfach, man könnte sich ebenso gut auf der Passstelle erkundigen. Der Unterschied sei gewissermaßen philosophisch, denn um das Gesicht als das eigene reklamieren zu können, müsste man entscheiden:  Ist es innen oder außen, Körper oder Seele? In welches System gehört es? Erst wenn ich das geklärt habe, kann ich mich bei den richtigen Begriffen bedienen, um es zu beschreiben, das Gesicht. 

Apropos Fön: Auch wenn es Hansis Fön oder ihr eigenes Bein wäre, würde sich die Sachlage nicht wesentlich ändern, sei das Attribut doch nur wie ein einzelnes in einer Masse von Attributen, die dem Gegenstand angeheftet werden können. Natürlich könnte auch jemand sagen: Ich habe ihr Gesicht in der Menge gesehen. Mal angenommen, er rede von ihr. Da es in der Mitte zwischen ihr und den andern angesiedelt sei, könnte er darauf sogar schneller und ursprünglicher reagieren als sie, nämlich mit den Sinnen und mit dem Urteil. Aber er könnte sich irren, so wie man sich ja auch beim Rasierpinsel irrt, sogar bei der Zahnbürste auf der Ablage im Gemeinschaftsbad: War das seine oder die vom Patienten im Nachbarbett? Ein Horror in Zeiten wie dieser. „Mein Gesicht“ aber, mit jener Unfehlbarkeit ausgesprochen, die zum Begriff dazugehöre wie die Schale zum Ei, wäre entweder ihrs, oder es wäre nicht. Ersteres würde so etwas wie ein Sehen von innen voraussetzen. Ein Sehen, wohlgemerkt, kein das Auge täuschende Fühlen. Tatsächlich sehe man aber ganz anders aus, als wie man sich fühlt. Sie, jedenfalls, das sei ihr Geheimnis oder Fluch, sehe ganz anders aus, das sei der Fluch. Oder vielmehr, sie fühle sich ganz anders, als sie aussehe. Das sei ihr Geheimnis.

Eigentlich habe sie nur ihrer Verwunderung Ausdruck geben wollen, nicht so sehr darüber, dass sie kein Gesicht hat, sondern dass sie das nicht gemerkt habe. Beides im Gleichgewicht zu betrachten sei schwierig, denn manches existiert nun mal, anderes nicht, aber wie könne es sein, dass es einem entgeht? Sie glaube sich zu erinnern, dass es immer schon ein komisches Gefühl gewesen sei, wenn sie sich mit den Händen über das Gesicht fuhr, wie man das so macht, wenn man innerlich oder äußerlich ermüdet ist. Es war ein angenehmes, gleichzeitig ein ganz besonderes, also ein wenig unheimliches Gefühl. Ein räumliches Gefühl, so als beträte sie ihr Haus. Kein Vergleich, jedenfalls, mit dem trivialen: Guck mal in den Spiegel. Obwohl, auch so könnte ein Thriller beginnen, weil ihr eine Fremde daraus entgegensah, nicht besonders hübsch, anziehend schon mal gar nicht, so fremd, dass es sie nicht einmal beunruhigte, und auf keinen Fall sie. 

Bei der Verwunderung habe sie sich aber nicht aufhalten wollen, das sei etwas für schwärmerische Gemüter, die fänden ja in allem einen Grund zu staunen. Sondern dabei, wie sie mit ihrem Irrtum gelebt hatte. Womit hatte sie gelebt? Was hatte sie gespürt? Die Koordinaten des Seienden jetzt einmal bezogen auf etwas, was gar nicht existiert. Wie war das mit ihr und ihrem Gesicht?

Frau S. sagte es jetzt, als ob sie einen Satz aus dem Katechismus deklamierte: Das Gesicht ist der Spiegel, der Körper das Gewand der Seele. Vorausgesetzt also, dass es der Spiegel der Seele sei, wie hätte sie daran zweifeln können, dass sie ein Gesicht hatte und dass es genauso war, wie es sich anfühlte! Deshalb habe sie sich auch um ihr Aussehen nie ernsthaft gesorgt, denn ihre Seele sei nun mal die schönste, und darum verstehe sie, warum manche Frauen ihr nach allen Regeln bearbeitetes Gesicht für natürlicher halten als das natürliche, sie habe das erst neulich im Radio gehört. Es könne eben nicht schön genug sein, und wenn der sichtbarliche Bezug zur Seele vollendet sei, dann sei das Ergebnis im besten Sinn natürlich. In dem Fall störe das Wissen um das Gemachte auch nicht. Im Gegenteil, der Seele zu ihrem Gesicht zu verhelfen sei eine experimentelle Angelegenheit, da sie nach Adam Riese unsichtbar ist. 

Damit aber die Rede von der Seele nicht allzu fromm klinge, wolle sie noch ein Wort zum Gefühl der Unverletzlichkeit, zum Gefühl der Unbesiegbarkeit sagen, beides ein Ausdruck der unbändigen Einheit mit sich selbst. Die dulde keinen Abstrich, keinen Ausreißer und keine Ablenkung, nichts, was es gerechtfertigt hatte, damals, als sie ein Kind war, von ihren dicken roten Backen zu reden, so als ginge es um Äpfel oder um das gesunde Leben auf dem Land. Ihr Gesicht und ihre Seele waren eins, und wenn sie verdrießlich war, dann war ihr Gesicht das auch. Und wenn es nach Frühling aussah, dann weil es in ihrer Seele nach Apfelblüten roch, und nicht umgekehrt. Denn ein Gesicht sei nun mal das eigene. Wogegen man den Körper loslassen könne. Gott sei Dank, denn wenn die Zeit ins Land gegangen sei, fehle doch hier und da eine Ecke. So dass man auch sagen könne, er selbst lässt los. Im Outback ihres Körpers habe wie bei allen Körpern ein gewisser Austausch mit den herrschenden Verhältnissen stattgefunden, der Problemzonen kreierte und Mängel bloßstellte, wo vorher keine waren, denn dem Vollkommenen könne man nun einmal schlecht etwas verkaufen.

Heute sei ihr das Gesicht egal, nicht mehr und nicht weniger. Die Sorge um sich selbst, für die sie dem Franzosen ewig dankbar sein werde, denn ohne diese Aufforderung  wüsste sie gar nicht, wie mit dem Leben klar kommen, sie lenke ihre Aufmerksamkeit nach innen. Säße sie in einem Kurs, der die Achtsamkeit übt, und erhielte den Auftrag „Visualisieren Sie Ihren vitalen Kern“, würde sie ihn spontan als ein Restflämmchen bezeichnen. Aus dem ersten Bestandteil des  Wortes ergäbe sich die Dringlichkeit, aus dem zweiten immerhin das Lohnende der Aufgabe. Früher hätte das noch ganz anders geklungen. Da hätte sie gesagt: Lesen Sie in meinem Gesicht. Oder: Sehen Sie, wie es leuchtet? Von wegen Rest. Heute sei sie nicht unzufrieden damit, dass ihr Gesicht so gar nichts vermittle.  Undurchsichtig sei es weiß Gott nicht im geheimnisvollen, nur im wörtlichen Sinn, der Blick stumpf, ohne Botschaft, die Haut knittrig, der Schwerkraft der eigenen Materie ergeben, mit einem Hang nach unten, also durchaus mit einem Interesse, nur nicht an ihr. Hübsch sei sie nicht. Aber weit gefehlt, dass sie darunter leide. Tant pis, wie die Franzosen sagen, ab mit Schaden, die Deutschen.Was nicht auf sie Acht habe, darauf habe auch sie nicht Acht. Sohabe sie sich von ihrem Gesicht getrennt. Sie habe es in die Welt der Gegenstände entlassen, da sei es auch nicht hässlicher als andere. Nur gelegentlich komme es vor, dass sich jemand noch nach ihr umdrehe. „Mach nicht so ein Gesicht!“ Sie könne dann nur die Achseln zucken, denn für sie sei ihr Gesicht ein herrenloser Gegenstand wie andere. Von der Seele verlassen, die es hielt, sei es dem Verfall preisgegeben oder einer anhaltenden Verwandlung zu sich selbst, wie sie manche Dinge erlebten, die erst als Müll interessant werden.

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