Frau S. äußert sich … über ihr Geschlecht

2. Folge einer Miniserie von unserer Gastprinzessin Ilse Bindseil

Den modernen Debatten über Identität und Geschlecht lausche sie verwundert, sagte Frau S. Nicht, dass sie nicht mitreden wolle. Umso befremdlicher sei es, dass sie das Wie und Warum der Unterhaltung nicht verstehe. Geschlecht schön und gut. Aber was, wenn man nie eins gehabt hat? Und ob sie von Identität träumen solle, wisse sie auch nicht, so fremd sei ihr die Chose.

Sagt eine Transfrau, sie sei jetzt endlich im richtigen Körper, dann frage sie, S., sich sofort, ob ihr selbst nicht etwas Entscheidendes fehle, etwas, was man zum Leben braucht. Nicht den richtigen Körper, o nein, dazu versteige sie sich nicht, sondern das intuitive Wissen von dem, was für sie der richtige Körper wäre.

Sie gebe zu, die Äußerung, an die sie sich erinnere, sei nicht von der Transfrau, sondern von der Reporterin gemacht worden, die sich des Themas angenommen habe. In der medialen Vermittlung sei das dann so holzschnittartig rübergekommen: Früher sei sie, die Transfrau, im falschen Körper gewesen, jetzt sei sie im richtigen. Sie selbst, S., habe reflexhaft gedacht, so einfach sei das also für die andern, und sie habe sich grottenmäßig gefühlt, wie ausgeschlossen aus einer Gesellschaft, in der man wenn nicht den richtigen Körper, so doch das richtige Gefühl dafür haben muss.

Sie sei sich ihres Geschlechts nie sicher gewesen. Auch lange vor seiner Zeit nicht, dabei deutete sie auf ihren Körper, der sich ein wenig verselbständigt hatte. Aber die Frontlinie verlaufe bei ihr anders als in den geschilderten Coming-out-, beinahe hätte sie gesagt Coming-home-Geschichten. Wir kennten ja alle das Gefühl „Neben XY komme ich mir immer so plump und ungelenk vor“. Wie sie sich erlebt habe, sei nämlich ganz ähnlich gewesen, nur in der Empfindung gesteigert. Nicht nur habe sie sich beständig verglichen. Sie habe sich auch regelrecht verwandelt. So habe sie auch das Geschlecht angenommen, das ihr in der jeweiligen Situation erforderlich schien. Normalerweise fühlte sie sich nämlich gar nicht, und auf einmal hatte sie sogar ein Geschlecht, wenn es auch ganz bestimmt nicht ihrs war. Es war ein Vorgang, der ihr ein ganz neues Lebensgefühl vermittelte, zumal sie den Eindruck hatte, dass sie sich in jemand Bestimmten verwandelte, und der war nicht sie, aber, wie die Anthropologen sagen würden, der daneben. In der Tat so, als hätte das Schicksal danebengehauen, habe sie sich in jenen Kinderfreund verwandelt, der seinerzeit im Stockwerk unter ihnen wohnte. So was kann vorkommen, aber knapp vorbei ist auch daneben. Als Katastrophe habe sie ihre Verwandlung denn auch nicht empfunden, da sie nicht von Schuldgefühl begleitet und eher wie eine Erscheinung als wie eine Materialisierung war, ein Beweis dafür, was einem alles passieren kann, und meistens nichts Heroisches, eher etwas Peinliches. 

Damals habe sie diesen verlässlichen Freund gehabt. Sie habe nur die Treppe hinunterzugehen und zu fragen brauchen: Ist der … da? Umgekehrt sei er zu ihr hinauf gekommen: „Ist die … da?“ Über ihnen, schon fast unter dem Dachjuchhe, habe übrigens eine Dame gelebt, die geschieden war und wegen ihrer Gepflegtheit und Zurückhaltung  von den Kindern bewundert, vom Rest der Hausbewohner gemieden wurde, aber das nur nebenbei. Also, wenn einer von ihnen beiden sich gelangweilt habe, brauchte er bloß beim anderen zu klingeln, so einfach war das, denn man war ja immer da.  Dieser kleine Freund sei seinem Vater nachgeschlagen, der, ein hervorragender Musiker, aber unglückseligerweise Studienrat, seiner Statur wegen von seinen Schülern treffsicher „Schrumpfi“ genannt wurde. Mich ging das gar nichts an, sagte S., da sie die Mädchenschule besuchte. Aber als der Junge in die Schule kam, in der sein Vater schon bekannt war, hieß er prompt nur „der kleine Schrumpfi“. Er sei nun nicht mehr so herzeigbar gewesen wie früher. Aber in Stunden der Verlassenheit  habe sie doch die alte Freundschaft in Anspruch genommen, wenn auch nicht mehr in der gewohnten Unbefangenheit und privater.

An den Kinderfreund von Anno dazumal habe sie dann ewig nicht gedacht, das Leben war dafür einfach zu cool. Aber ab einem gewissen Zeitpunkt habe sie gemerkt, dass sie sich in der Nähe bestimmter Leute  geradezu physisch verwandelte, und immer in den kleinen Schrumpfi. Meist war es ein weibliches Interesse, das sie zumindest als solches empfand und auf das sie nicht zu reagieren wusste. Vielmehr war es so: Noch bevor sie zu Ende überlegt hatte, war sie schon zum kleinen Schrumpfi geworden. Das war kein angenehmes Gefühl, zumal der echte Bub, ein Flüchtlingskind aus dem Osten, neben all den einheimischen Arzt- und Fabrikantensöhnen, deren Spott er ausgesetzt war, seinerzeit wenig ansehnlich gewirkt habe, ansehnlich jetzt mal in Richtung auffallend aufgefasst. Neben ihnen, die damals schon mit dem Tennisschläger auftrumpften, sah er aus wie auf einer Schwarzweiß-Fotografie mit viel Grau, und so hatte seine Mutter ihn wohl auch gekleidet, immer irgendwie gemustert und Ton in Ton, so dass seine kleine Gestalt, die eigentlich drahtig hätte sein können,  vor dem Horizont buchstäblich verschwamm. 

Ich verliere mich in Erinnerungen, sagte sie errötend. Aber sie spüre noch heute, wie sie sich verwandelte, ein wenig kürzer, breiter wurde, irgendwie quadratisch. Das war wie gesagt kein angenehmes Gefühl, und sie habe es ihrer jeweiligen Begleitung auch ein bisschen übel genommen. Nicht richtig übel, denn die andere konnte ja nichts dafür und wusste auch nicht, was in ihr vorging. Aber so, dass sie in die Begegnung einen distanzierten Ton gebracht habe, zum Erstaunen der anderen, die sich sicher fragte, was sie falsch gemacht hatte, beziehungsweise ihr, der klammheimlich Verwandelten, eine sonderbare Gefühllosigkeit unterstellte. Dabei sei die eher aus einem Übermaß an Empfindungen entstanden, weil es sie kränkte, dass ihr als möglicher Liebespartnerin einer Frau nur die Rolle des kleinen Schrumpfi zur Verfügung stand. Heute wisse sie natürlich, dass es sich um einen Abwehrmechanismus gehandelt habe, der sich gegen das Angebot einer wirklichen Nähe richtete, wie sie sie in ihrer Kinderzeit genossen hatte, freilich, so hatte sie es erlebt, nicht als Ausdruck sozialer Geborgenheit, sondern als Ausgleich für eine allgemeine Isolation und Ausgrenzung, denn auch sie war ja Flüchtlingskind, noch dazu katholisch.  Ein solches Quidproquo konnte sie als Erwachsene nicht gutheißen. Verkörpert durch eine Frau, konnte sie die angebotene Nähe nicht mehr mit sich vereinbaren. Dabei falle ihr allerdings ein, dass sie immer schon dazu geneigt habe, ein Interesse an ihr als, sie könne es nicht anders ausdrücken, übertrieben zu empfinden und Menschen, die ihr ein solches Interesse entgegenbrachten, zu bestrafen, am einfachsten dadurch, dass sie ihnen ihr eigenes Interesse entzog. Weniger dramatisch ausgedrückt, habe sie immer schon dazu geneigt, jemanden, der sich für sie interessierte, nun seinerseits für uninteressant zu halten. Das sei nun mal so, und mit Mann oder Frau habe es wenig zu tun.

Sie könnte jetzt weiter aus dem Nähkästchen plaudern und verraten, dass sie sich gelegentlich auch in eine Frau verwandelt habe, denn selbst diese Vereindeutigung bedurfte eines Anstoßes von außen und war auch nichts, was sie sich bleibend hätte aneignen können. Wenn sie sich gelegentlich und zum Erstaunen ihrer Umwelt an jemanden hängte, der in keiner Weise zu ihr zu passen, auch solche Hingabe nicht zu verdienen schien, dann weil er gewissermaßen den Schlüssel zu ihrer Weiblichkeit besaß, anders gesagt, von ihr jenes Quäntchen Geschlechtsidentität hütete, das ihr zum Bewusstsein, eine Frau zu sein, fehlte. Sie habe gar nicht den Ehrgeiz gehabt, die Schönste, Glücklichste zu sein oder, wie sie als Mädchen sagten, den aufregendsten Mann zu bekommen. Ihr sei es lediglich um ein Gefühl der Vollständigkeit gegangen, wie man es auch mit Drogen, und gerade mit den gefährlichsten unter ihnen, verbinde. Wie eine Droge seien solche Beziehungen denn auch gewesen. Nie habe sie sich, nachdem sie ihre Identität einmal gefunden hatte, selbständig in ihr eingerichtet. Immer war sie darauf angewiesen, dass bei ihr etwas ausgelöst wurde, was sie zur Frau machte. Wenn sich also Leute gewundert hatten, wie sie es mit jemandem aushielt, von dem sie nur die gravierenden Mängel sahen, dann sei ihnen diese Tatsache schlicht unbekannt gewesen. Das habe mit Hörigkeit nichts zu tun, bei dem Wort schüttele es sie förmlich. Aber vielleicht sei es der erste Schritt dazu.

Die eigene Unbestimmtheit zugegeben, müsse sie sich über die anderen Menschen doch wundern, die sich ihrer Geschlechtsnatur so deutlich bewusst seien und sich einer Festigkeit rühmten, die sie selbst, nun ja, nicht ganz für bare Münze nehmen könne. Entweder dieses Bewusstsein, der Begriff sage es, residiere im Kopf, oder es residiere in der Sprache. Nicht zufällig gewinne es in den Worten jener Reporterin eine schnörkellose Existenz, wie es sie nirgends sonst habe, am wenigsten sicherlich in jener von ihr interviewten Person, die die Qualen der Verwandlung auf sich genommen hatte und, sie behaupte es frei heraus, vom einen undeutlichen Geschlecht in ein anderes undeutliches Geschlecht hinübergewechselt sei. Anders als die Reporterin wolle sie sich über diese Person nicht äußern, komme hier doch etwas ihr urtümlich Fremdes ins Spiel, an dem sie sich nur blamieren könne. Sie könne sich lediglich vornehmen, die Stimme ihres Körpers nicht zu überhören, aber auch anderen nur raten, sich in die physischen Belange ihrer Mitmenschen nicht einzumischen. Denn das komme nicht gut, und wenn man genau hinsehe, dann merke man auch, dass man nie den Punkt treffe.

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