Ein offener Brief an ein überflüssiges Format.
Von unserem Gastprinzen Jakob Belbo
Liebe Kulturzeit,
seit 25 Jahren bietest du Bildungsbürgern die Stichworte zur Distinktion sowie seichte Systemkritik zur moralischen Profilierung. Das habe ich vor einigen Jahren noch dankbar bezogen. Zwischenzeitlich ist mein Fernseher kaputt gegangen, weshalb ich kulturzeit-abstinent wurde. Als ich am 12. November 2020 dann durch einen Schub Langeweile motiviert die aktuelle Sendung aus der Mediathek von 3sat aufrief, ahnte ich nichts Schlimmes. Doch bereits der erste Beitrag machte mich sehnsüchtig nach RTL2. Zum Jubiläum der Bundeswehr darf Sönke Neitzel sein neues Buch bewerben, der sich über Afghanistan freute, weil die Bundeswehr „endlich mal kämpfen musste“. Das Buch „Deutsche Krieger“ posiert unterdessen im Laub auf einer Wiese (ein echter Soldatenfriedhof!).
Seine Verbundenheit mit der Wehrmacht drückte der Historiker bereits 2008 aus, als er sich im Rechtsausschuss des Bundestags dagegen aussprach, die im Zweiten Weltkrieg verurteilten Deserteure pauschal zu rehabilitieren. Das Gesetz zur Aufhebung nationalsozialistischer Unrechtsurteile in der Strafrechtspflege ermöglichte ab 2002, die NS-Urteile gegen desertierte Wehrmachtsoldaten ohne Einzelfallprüfung aufzuheben. Sechs Jahre später kritisiert Neitzel dieses pauschale Verfahren, da eventuell einige Fälle nicht als Unrechtsurteile zu bewerten seien.
Der zweite Protagonist, Robert Müller, zeigt uns sein Tattoo „COMBAT VETERAN“, das sich auf seine aktive Zeit als Soldat in Afghanistan bezieht. Als er sein Shirt auszieht, sehen wir Thors Hammer, mit Runen beschriftet, auf seiner Brust. Auch er darf sein Buch „Soldatenglück“ bewerben. Der Dritte im Bunde, Oberst a.D. Rainer Buske, leitete 2008 ein Feldlager in Kunduz, „um ein Land zu befriedigen“. Sobald sich jemand im Interview verspricht, muss das wohl in die Sendung geschnitten werden.
„Die Wehrmacht ist in keiner Form traditionsstiftend für die Bundeswehr“, hofft und lügt Ursula von der Leyen vor der Presse. Neitzel von der Uni Potsdam aber legt seine Sicht den von ihm befragten Soldaten in den Mund: „Es gibt bestimmte Werte, Normen, Tugenden wie zum Beispiel Tapferkeit, wie Kameradschaft, die haben diese Wehrmachtsoldaten in Extremsituationen bewiesen und das ist für mich vorbildhaft“ – wobei sein Buch auf dieser Wiese eingeblendet wird.
Umschalten, zuckt es mir durch den Kopf. Doch meine Füße liegen auf den beiden leeren Bierkisten zwischen Laptop und Sofa und ich kann mich nicht aufrappeln.
Beitrag zwei dreht sich um Antisemitismus, also um Kritik an der israelischen Politik, warum Kritik an Israel voll wichtig ist, aber durch Querulanten diffamiert wird. Wenn eine Kunststudentin eine Ausstellung „School for unlearning zionism“ nennt, die Amadeu-Antonio-Stiftung sich darüber aufregt und die Hochschule das BMBF-Logo abkratzt, um nicht zu suggerieren, dass hier öffentliche Gelder im Spiel sind; spätestens dann muss Wolfgang Benz her, um sich über die omnipräsente Antisemitismuskeule zu beklagen: „Dass es so einfach geht: Man drückt einfach das Etikett drauf und die Sache ist fertig, man braucht nicht mehr drüber diskutieren.“ Eigentlich geht es ja um Kunst und damit zurück zu Yehudit Yinhar, die darauf zielt, „in Israel erlernte Machtstrukturen zu verlernen“, halt leider mit einem Titel, bei dem unbedarfte Zuschauer gleich was Politisches vermuten. Und wenn Israelis gegen ihre Heimat agitieren und in Deutschland dafür Zuspruch erhalten, sind plötzlich alle auf der richtigen Seite, erst recht das Kulturzeitpublikum. Das Buch von Benz liegt auf einem Stein, im Hintergrund die Wiese mit dem Laub.
Danach darf Volker Beck ganz kurz sagen, dass er BDS schon als antisemitisch einschätzt. Ein Gegengewicht muss sein. Der Beitrag ist aber so geschnitten, als würde Beck sich fast ausschließlich über eine BDS-Grafik ereifern, die das Logo des Eurovision Song Contest mit gespaltenem Herzen zeigt, wobei die parallel gezackte Risslinie auch eine doppelte Sig-Rune bildet und bei näherem Hinsehen an das Emblem der SS erinnert. Schon klar, liebe Kulturzeit, der verbeißt sich in Symbolik und Details, die ja nur zufällig so aussehen, wie sie aussehen.
Die Politologin Muriel Asseburg findet es „ein bisschen bizarr, wenn jüdische Israeli des Antisemitismus gezeichnet werden.“ (Versprecher, s. o.) Asseburg verortet unterdessen den „Propagandakrieg“ gegen BDS: „Das sind Kräfte wie die AfD-Fraktion im Bundestag. Das ist die Springerpresse. Da sehen wir oft, dass in der Jerusalem Post und in Bild-Zeitung sehr ähnlich lautende Artikel auf Basis der gleichen Quellen publiziert werden.“ Kritik an der BDS-Bewegung mit der politischen Rechten in Verbindung zu bringen macht es den Zuschauern leicht, die Akteure zu sortieren, auch ohne sich die Bewegung näher anschauen zu müssen.
Peter Schäfer, der seinen Job als Chef des Jüdischen Museums verlor und vom Kommentator als Paul Schäfer vorgestellt wird, schildert, mit welchen Worten seine Jerusalem-Ausstellung angegriffen wurde: „Das geht schon in die Richtung des Antiisraelischen und dann des Antijüdischen, bis hin zu antisemitisch.“ Die Steigerungsformen Positiv, Komparativ, Superlativ kennen wir ja alle aus der Schule. Doch bis wohin war es noch medium-antijüdisch und ab wo wurde es böse-antisemitisch? Schäfer führte den Kulturattaché der Islamischen Republik Iran durchs Museum, der die Shoa vermutlich als künstlerisches Sujet verstand. Hat er sich damit geäußert? Auch sein Buch „Kurze Geschichte des Antisemitismus“ posiert im Laub, während er über eine Wiese schlendert.
Der Literaturteil befasst sich zunächst mit dem „Lustigen Taschenbuch“, ok. Die Sonderausgabe bringt Motive und Charaktere aus der Krimiserie TATORT ein. So ermittelt etwa Kommissar Schimauski, die Nagervariante des Duisburger Kriminalisten. Ich atme auf. Doch dann folgt die völlig ratlose Besprechung einer neuen Romanskizze von DeLillo. Ein Literaturkritiker scheint nicht recht zu wissen, was er in diesem Studio eigentlich soll, und behauptet deshalb unentwegt, er habe das Buch gelesen.
Grübelnd schalte ich ab. Wer steckt hinter diesen Beiträgen, für die Mitarbeiter von Sat1 Kantinenverbot bekommen würden? Wer hat zum Beispiel ein Interesse, die Debatte um den Antisemitismus derart zu blamieren? Und warum ist Peter und Paul kein gesetzlicher Feiertag?
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