„Willige Vollstrecker“

Einige zweifelhafte Motive im Werk des Kulturwissenschaftlers und Friedenspreisträgers Jan Assmann blieben bislang unbeachtet. Von unserer Sachverständigen Dora N. Stein

Die offiziellen Laudatoren und die medialen Festredner haben ihre Schuldigkeit getan und einen Aspekt nicht berührt. In dem vielgelesenen Werk Religion und kulturelles Gedächtnis (2000) schreibt Jan Assmann über die „Ausmalung grauenhaftesten Unheils“ im 28. Kapitel des 5. Buches Mose: „Dieses Kapitel ist eine einzige ‚Todesfuge’, eine Vorwegnahme von Auschwitz.“ Zur Erinnerung: „Todesfuge“ lautet der Titel eines Gedichts von Paul Celan, entstanden zwischen Ende 1944 und Anfang 1945 im Gedenken an die Opfer der Vernichtungslager.

Besagtes Kapitel des wohl um 500 v. Chr. verfassten Buches Deuteronomium zählt zunächst die Wohltaten auf, mit denen Gott das Volk Israel, falls es seine Gesetze und Gebote hält, zu segnen verspricht, dann die Flüche und Strafen, die es für den Fall treffen sollen, dass es jene missachtet. Der Wechsel von Heilsversprechen und Drohreden sollte dazu dienen, den politischen und religiösen Reformen, die nach dem Ende des babylonischen Exils im neu gegründeten judäischen Gemeinwesen durchgeführt wurden, Durchschlagskraft zu verleihen.

In Monotheismus und die Sprache der Gewalt (2006) modifiziert und ergänzt Assmann seine These so: „Diese geradezu sadistisch anmutenden Schilderungen der Vernichtung, Zerstörung, Ausrottung des untreu gewordenen Volkes lesen sich wie eine Vorahnung von Auschwitz und werden ja auch zum Beispiel von Primo Levi in diesem Zusammenhang zitiert.“ Doch Primo Levi, 1987 aus dem Leben geschieden, eignet sich nicht als Gewährsmann. In dem Gedicht, das Assmann seiner Aussage über Levi zugrunde legt, zitiert dieser keineswegs die im 28. Kapitel des 5. Buches Mose angedrohten göttlichen Strafen als Vorahnung von oder im Zusammenhang mit dem in Auschwitz durchgeführten Mord. Er benutzt die deuteronomistische Verse, um das Gedenken an die Ermordeten zur absoluten Pflicht zu machen.

Hat Assmanns Versuch, Elemente des biblischen Geschichtsnarrativs mit dem deutschen Vernichtungswahn zu verknüpfen, irgendeinen Erkenntniswert? Abgesehen davon, dass alles in der Welt irgendwie aufeinander bezogen oder zum symbolischen Äquivalent von etwas anderem deklariert werden kann, drängt sich die Frage auf, was der vor etwa 2.500 Jahren verfasste Text aus dem 5. Buch Mose, was der dort niedergelegte erzieherische Segen und Schrecken mit Auschwitz zu tun hat.

Handelt es sich um Manifestationen des Unbewussten, etwa um Übertragungen oder Projektionen zur Abwehr des Verdrängten oder zum Abreagieren des Leidens an der deutschen Schuld, wie sie allenthalben den Firnis deutscher Erinnerungskultur durchbrechen? Der Theologe Rolf Schieder hat 2014, vielleicht als einziger Wissenschaftler, Assmanns Verknüpfungen kommentiert: „Es scheint ein spezifisch deutsches Bedürfnis zu geben, dem Judentum Gewalttätigkeit zuzuschreiben. Soll damit das deutsche Schuldgefühl angesichts der Shoah reduziert werden?“

Die deutsche Erinnerungskultur mag noch so perfekt scheinen, die NS-Epoche und der Holocaust sind eine „unbewältigte Vergangenheit“ geblieben. Darauf wies der Historiker und Schriftsteller Saul Friedländer hin und fügte hinzu, dass „der extreme Charakter der damaligen Vorgänge und die Ungewissheit in Bezug auf ihre geschichtliche Bedeutung auch den Historiker in ein Feld der Projektionen, der unbewussten Gestaltungen und Umgestaltungen versetzen, in eine echte Übertragungssituation“.

Eine kurze Übertragungsszene spielte sich auf der Leipziger Buchmesse des Jahres 2015 ab, als Assmann sein Buch Exodus. Die Revolution der Alten Welt vorstellte. Im Gespräch mit dem Moderator vertrat er die Auffassung, ausschließlich unter den Anhängern der alten israelitischen Religion habe es die „willigen Vollstrecker“ des göttlichen Willens gegeben. Wer hätte sich nicht an Daniel Goldhagens Buchtitel Hitlers willige Vollstrecker von 1996 erinnert? Eine kurze Pause folgte – Schreck und Unsicherheit des Moderators, doch nicht der Rede wert.

Wie der bekannte Kulturwissenschaftler, Altertums- und Gedächtnisforscher leichthin das biblische Geschichtsnarrativ des 5. Buches Mose mit Auschwitz assoziiert, so den „Neuanfang“ des nach der Rückkehr aus dem babylonischen Exil neu gegründeten judäischen Gemeinwesen mit dem in der Bundesrepublik Deutschland Mitte der Achtziger bewerkstelligten Aufbau einer offiziellen Kultur der Erinnerung an den Holocaust: „Dieser Neuanfang schien damals  wie heute nur in Form einer elaborierten Erinnerungskultur zu bewältigen zu sein, die das Bewusstsein schuldhafter Vergangenheit festhält, um sich von ihr loszusagen.“

Mag sein, dass beide beschworenen „Neuanfänge“ eine ähnliche formale Struktur aufweisen: Befreiung von belastenden Ereignissen der Vergangenheit zugunsten der Gegenwart durch kollektive „Aufarbeitung“ in einer Gedenkkultur. Doch reicht das aus, um von „Neuanfang … damals wie heute“ zu sprechen? Sind die jeweiligen Schuldsituationen (die im Deuteronomium zugeschriebene sowie die in Deutschland real geschaffene) nicht ebenso inkommensurabel wie die institutionalisierten Erinnerungspolitiken?

Die Konstruktion von biblischen Vorahnungen oder Vorbildern der deutschen Geschichte macht stutzig. Vielleicht beruht sie bloß auf der „egozentrischen Selbstbezüglichkeit des Geistes, der aus Geschichte herausgeboren, zuletzt Geschichte als Vorstufen seiner eigenen Gegenwart begreift“ (Theodor Lessing 1919).

 

 


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