Das Fest des gespannten Gummis – Weihnachten bipolar

Wie ist es, Weihnachten zu feiern, wenn man bipolar ist? Unsere Gastprinzessin Karla Kraepelin weiß es. Und

Familienfeste gehören zu dem Belastendsten, was man erleben kann.

Das ist bekannt, und das trifft auf psychisch Kranke ebenso zu wie auf psychisch Gesunde.

Und doch ist es anders. Das Problem ist nicht das Aufeinandertreffen mit all den Menschen, das ist es vielleicht für jemanden mit sozialer Phobie, das Problem für mich ist das Treffen mit Menschen, die ich mag. Und das feste Wissen, dass ich diesen Menschen, der Situation, den antizipierten Gefühlen nicht werde gerecht werden können.

Das Wissen, dass ich eben nicht Glückseligkeit empfinde, auch dann, wenn alle lachen, alle freundlich miteinander umgehen, Glanz in aller Augen liegt. Auch in meinen Augen liegt dann Glanz, wahrscheinlich. Zumindest sehen ihn alle. Aber ich fühle ihn nicht. Ich fühle nur Spannung. Die Spannung eines Gummibandes kurz vorm Reißen.

Die Tabletten lassen mich die Spannung nicht mehr so spüren, aber ich weiß, dass sie da ist. Dass sie an mir reißt, an mir zieht, an mir zehrt. Und ich weiss, dass ich mich freuen sollte. Weil ich dieses Weihnachtsfest so habe, im Kreise der Liebsten, mit Kindern, mit Lachen, mit Singen, mit wunderbaren, persönlichen Geschenken. Jeder würde sich über so ein Weihnachtsfest freuen.

Aber ich freue mich nicht, eben weil ich mich freuen sollte. Sollte ich mich nicht freuen, vielleicht würde ich mich freuen, vielleicht würde ich befreit lachen, befreit Späße machen, und nicht warten, bis der Alkohol wirkt, und ich in Kombi mit der Tablette benommen werde, und dadurch befreiter. Und ich weiss, nur ich habe diese Erwartungen an mich. Oder vielleicht doch auch die anderen? Ist da ein leiser Vorwurf in ihren Blicken? Ein: ‚Wenigstens zu Weihnachten könnte sie doch mal die Krankheit vergessen?‘ Könnte ich? Könnte ich? Nein, da ist nichts in den Blicken. Oder doch.

Ich trinke weiter. Ich warte, dass die Anderen reden. Miteinander. Und gebe hier und da einen Kommentar ab. Manchmal klingt er schärfer als gewollt, manchmal banaler. Sie überhören das. Zumindest geben sie das vor. Aber ich sehe es, in ungewollt hoch gezogenen Augenbrauen, höre es in kurzen Sprechpausen, in Stimmen, die eine Nuance höher gehen. Ich will ihnen doch das Fest nicht kaputt machen, ich will nur das Gummiband lösen. Nur ein kleines Stück, dann wird es wieder gehen. Das haben sie ja alle verdient, das habe ich mir auch verdient. Nur ein kleines bisschen. Lösen.

Später am Abend ist es dann gelöster. Essen. Bescherung. Singen. Alles überstanden. Ich sollte es als ‚schön‘ abspeichern. Aber ich werde das Band nicht vergessen. Das Problem ist, zu erklären, dass ich eben so bin, weil ich sie alle lieb habe, und nicht weil nicht.

Aber ja, ich mache ja meine Therapie und ich nehme meine Tabletten, nun schon monatelang. Wieso kann es dann nicht einen Abend einfach gut sein. Manchmal ist es doch auch tage-, ja fast wochenlang ruhig. Aber an diesem Abend nicht. Weil es ein besonderer Abend ist. Das weiss ich auch. Aber es wird dadurch nicht fassbarer, nicht harmloser, eben weil ich weiss, dass dieser Abend nur einmal im Jahr kommt.

Am nächsten Abend ist das Gummiband gelockert. Es hat hier und da leichte Zeichen eines Einrisses. Leichte Zeichen. Mikrorisse. Können die heilen? Reissen die eines Tages ganz? Ganz von alleine? Alleine von mir?

Es ist nicht so, dass ich nicht unter Menschen sein will. Ich will unter Menschen sein. Ich will nur das wie und die Abläufe bestimmen. Aber das geht einerseits nicht, und andererseits streßt es mich, alle Abläufe zu bestimmen. Ja, ich erkenne selbst das Paradoxe. Aber das Erkennen bedeutet nicht, dass ich es auch umsetzen kann. Und so beginnt das Warten: auf das nächste Fest des gespannten Gummis.

Karla Kraepelin schilderte für die Prinzessinnenreporter zuletzt einen typischen Tag in ihrem bipolaren Leben:

https://www.prinzessinnenreporter.de/denn-du-bist-bipolar/

 
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