Die große Distanz (KW25)

Es ist ein Elend, wohin man nur schaut. Zeit, sich von einigen Dingen zu distanzieren. Hier ist der distanzierte Wochenrückblick des royalen Bullshitbeauftragten Samael Falkner

Zeitschrift mit Aufschrift "(vo)Te (re)Main (t)Oday" zum Brexit

Foto: kenningtonfox via Flickr unter CC

Am Montag fragten sich einige Tageszeitungen, ob das Zentrum für politische Schönheit würde seine neueste Aktion abbrechen müssen – aus Tierschutzgründen. Falls Sie mit der diesjährigen Aktion nicht vertraut sind: Bei „Flüchtlinge Fressen“ können sich Flüchtlinge mitten in Berlin in einer Arena nach antikem Vorbild Geflüchtete von drei Tigern fressen lassen. Gleichzeitig wird online abgestimmt, welche der 100 vorgeschlagenen noch in der Türkei befindlichen Flüchtlinge mit der „Joachim I“ Ende Juni nach Deutschland reisen dürfen. Im Voting kann abgestimmt werden, wer gerettet werden soll, die kranke 60-Jährige, die Großfamilie oder der 27-Jährige. Stimmt die Bundesregierung dem Flug zu, werden alle bisher durch Spenden finanzierten Flüchtlinge ins Flugzeug gesetzten, nach Berlin Tegel geflogen und können in Sicherheit ihren Asylantrag stellen. Nach geltendem Recht ist das nicht möglich, Flüchtlinge sind gezwungen, den Weg über illegale Routen anzutreten, der Flug kann nur mit Visum angetreten werden. Und nun raten Sie, worüber sich Zeitschriften und Gegner aufregen? Über die Tigerhaltung. Natürlich. Die drei gemieteten Tiger (Hier die Tiger-Livecams anschauen, sehr hübsch), die offenbar für Veranstaltungen und Aufführungen zur Verfügung gestellt werden können, den Dompteur immer im Blick, würden auf viel zu wenig Platz gehalten, so die Kritik. Und dann sollen sie an der Arena-Sache teilnehmen. Ich distanziere mich von Menschen, die auf Kunstaktionen bei denen das Leid Flüchtender thematisiert wird, kommentieren „Lebendfutter ist auch in Zoos verboten“. Und: Philipp Ruchs Werksvorbild Schlingensief würde die Aktion, wie alle anderen extrem publikumswirksamen, politischen Aktionen der Gruppe vermutlich lieben. Mit „Ausländer raus!“ hatte er vor 16 Jahren für ähnlich viel Aufsehen gesorgt. Geändert hat sich an den Bedingungen für Flüchtlinge seither nichts.

Am Dienstag musste ich Schland-Merch kaufen. Fragen Sie nicht weiter, es war dringend erforderlich. Da stand ich also vor den Regalen mit all den schwarz-rot-gelben Dingen. Schland-Schal, Schland-Perücke, Schland-aufblasbare-Klatschdinger, Schland-Duftbaum. Schland-Duftbaum? Das war genau das was ich suchte – und so billig (3 Euro nochwas). Erst jetzt schaute ich auf die Preise und war überrascht. Das war für Kaufland-Maßstäbe das vielleicht teuerste Regal. Gerade noch hatte ich einen Wasserkrug aus Glas für 2.99 Euro (Geht es dir gut, Kapitalismus? Findest du 2.99 für einen Glaskrug einen angemessen Preis?) in den Korb gelegt, nun hielt ich einen minihaften Wunderbaum um einen Euro mehr in den Händen. Ich halte Menschen, die aufblasbare Klatschdinger für zehn Euro kaufen, um zwei, drei Spiele daheim zu bejubeln, nicht für die intelligentesten aller Mitbürger. Auch darum distanziere ich mich von diesem Regal und allen weiteren Regalen mit Schland-Merch. Kaufen Sie sich doch lieber einen Schal, den Sie auch im Winter tragen können.

Der Mittwoch war warm. Dachte ich zumindest rein subjektiv. Dann kam der Donnerstag mit seinen gut 37 Grad. Außerdem wurden in Frankreich Demonstrationen verboten, was zum weiteren Aufheizen der Situation führte, in der in der Vergangenheit bereits Regierungsgebäude besetzt worden waren, aber ach, mit echtem Journalismus möchte ich Sie bei diesem Wetter nicht quälen. Das widerspricht unserem Vorsatz, auch gegenüber Untergebenen ein wenig Menschlichkeit vorzuspiegeln.

Kritischer Comic zur Reaktion zu Viernheim in den Sozialen Medien

Comic © Erzaehlmirnix 2016

Ungefähr eine Minute dauerte es (trotz Hitze) am Donnerstag gegen Mittag von der Nachricht eines verwirrten Mannes, der vermutlich mit einer Schusswaffe Menschen in einem Kino bei Viernheim bedroht, bis im Hashtag die Ersten von einer Medienverschwörung und Verschweigen der Nationalität des Attentäters sprachen. All die Toten hätte vor allem die Gutmenschenagenda auf dem Gewissen. #PrayForGermany ging herum. Am Ende des Tages war vor allem klar, dass außer dem Angreifer selbst niemand getötet wurde. Der Umstand, dass eine Nachrichtensperre verhängt worden war, ließ dennoch Kollegen in der ganzen Republik vorsichtshalber schon einmal über einen Zusammenhang mit der EM und Brüssel nachdenken. Seufz. Und so distanzieren wir uns eben von allen, die meinen, über noch im Stattfinden begriffene Verbrechen berichten zu müssen.

Der Freitag eröffnete der EU, dass die Briten zwar, als es ihnen wirtschaftlich schlecht ging, gern Anschluss suchten, aber jetzt doch lieber wieder in die wirtschaftliche Misere zurückkehren wollen. Konsequent stürzte sich dann das Pfund in die Tiefe und die Populisten ruderten zurück. Nigel Farage zum Beispiel hatte behauptet, Britannien spare 350 Millionen Pfund, Euro, Streichholzbriefchen, pro Woche!, wenn sie die böse EU leaven. Direkt am heutigen Morgen ruderte er zurück und meinte, das Geld würde wohl letztlich doch nicht in das NHS zurückfließen.

Und überhaupt stellten zum Freitag erstaunlich viele Politiker fest, dass sie wohl doch nicht alle Ausgaben bedacht hatten. Wir könnten uns jetzt aufregen, distanzieren, aber um ehrlich zu sein lehnen wir uns gerade auf unserer Sonnenterrasse zurück und genießen den Ausblick. Außerdem haben wir ein Dekret erlassen, wie mit der EU weiter zu verfahren ist.

Ein Gedanke zu „Die große Distanz (KW25)

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