Frau S. äußert sich (1)

Normalerweise sei es doch so, sagte Frau S., indem der Verstand eine Sache durchdringe, stelle er die Verbindung zum Menschen her, der von ihr nun auch moralisch und gefühlsmäßig geprägt werde. Das verbinde sie übrigens mit dem Wort „durchdringen“, dass eine fremde Sache bis zu jenen Schichten der Person vordringt, die mit dem abstrakten Wissen wenig zu tun haben, aber, wie solle sie es ausdrücken, sich mit ihm arrangieren müsse.

Nichts bleibt ohne Folge, sagte sie nachdenklich, und deshalb könne Folgenlosigkeit auch nur ein beschönigender Ausdruck für eine Blockade mit ihrerseits schwerwiegenden Folgen sein. Ihr unförmiger Leib, zum Beispiel, sei die sichtbare Folge davon, dass sie den Zusammenhang zwischen Essen und Zunehmen nicht wirklich begriffen habe. Was aber sei die Ursache? 

Die Ursache sei, dass für sie essen und vertilgen eins sei, die Vorstellung des Zuführens, gar des Erhaltens und Vermehrens habe daher keinen Platz. Ernähren, sie gebe es zu, sei für sie bestenfalls ein Fremdwort, gut für die Wissenschaft, schlecht für das Leben, im Zusammenhang des letzteren beinahe unanständig. Essen, so wie sie es verstehe, sei Beseitigen, es sei Aufräumen. Nicht ein aggressiver Akt gegen einen äußeren Feind, das nicht, sondern die Wiederherstellung der lichten Klarheit, wie sie bestanden hat, bevor das Essen auf den Teller kam. Mag es noch so sorgsam bereitet, so ingeniös ausgedacht sein, wenn es denn fertig ist, gehört es der Ordnung der Materie, nicht des Geistes an, was man daran erkenne, dass es seinen eigenen Verfallsprozess habe, wie er am abgegessenen Teller, später dann beim Sturz in die Biotonne zu beobachten sei. Kauen, so betrachtet, sei ein Akt der Wiederherstellung eines Zustands, der ursprünglich geistig war, die Beseitigung von Materie durch Geist. Schlucken, um auch das noch gesagt zu haben, sei die primitive Form davon. Hier gehe es nur noch ums Beseitigen, nicht mehr um Geist.

Sie sei eine unbedingte Anhängerin des Geistes, sagte sie, aber von diesen Höhenflügen abgesehen sei es schlechterdings unverständlich, dass, was an der einen Stelle, durch Essen, vernichtet werde, sich an einer anderen Stelle wieder anbaue. Vom Betrug, den die Verdauungsmaschinerie darstelle, ganz zu schweigen. Stoffwechsel, das habe sie bitter gelernt, bedeute, was das Wort sage: der fremde werde zum eigenen Stoff. Sie habe dagegen immer geglaubt, der Stoff wechsle vom Sein zum Nichtsein. Also, nicht er wechselt sich, so kleingeistig, wie das gedacht ist, sondern er hört auf zu existieren.

Sie strich über das großzügig geschnittene Kleid. Befühlte, was darunter war. Andere, sagte sie, konnten mit dem hier umgehen. Sie kannte ja auch Leute, die ihre Wohnungen mit allem Möglichen vollstellten, ohne Platzangst zu kriegen oder sich überflüssig vorzukommen. Sie dagegen habe so eine komische Art, sich von den Dingen nicht recht unterscheiden zu können, sie empfinde sie als Konkurrenz, nicht als Ergänzung. Ungeachtet ihrer Körperlichkeit sei sie wohl fragil, einfach leicht umzuhauen. Und so geistig von Natur, dass schon die geringste Ansammlung von Stofflichem sie an die Wand drücke. 

Eine seltsame Dichotomie beherrsche ihr Leben, ein Entweder-oder, das sie nicht gut heißen müsse, mit dem sie vielmehr auf die Welt gekommen sei. So könne sie, einmal die Grenze der normalen Nahrungsaufnahme  überschritten, nicht mehr aufhören zu essen. Logisch, so komme es ihr vor, wo doch die Grenze überschritten sei. Man denke nur: Hannibal, überschritt die Alpen! Was die andern denken, wolle sie gar nicht wissen, offensichtlich dächten sie anders. Sie aber werde von einer gewissen Neugier, beinahe hätte sie gesagt einer wissenschaftlichen Unruhe gepackt. Entweder strebe ihre Unförmigkeit einer neuen Form entgegen, was sie nicht verpassen wolle. Oder aber der Kampf Geist gegen Materie sei verloren. Wär ja auch möglich. Und wo bleibe sie dabei?

Sie lächelte geheimnisvoll.

Ich kaue.

Wir dürften jetzt einmal nicht an das Ergebnis denken, sagte sie. Tastend strich sie über ihr Gewand. Das, sagte sie, und was dazu geführt habe, habe doch nichts miteinander zu tun, es sei, um die Philosophen zu zitieren, nun einmal nach Art, nicht Grad verschieden.

Kauen sei Tätigkeit, der Körper ein Gegenstand. Kauen, wenn wir es denn philosophisch wollten, sei auf der Welt das einzige zu unendlicher Wiederholung befähigte Nein, der Körper ein Gegenstand wie jeder andere, ein tumbes Ja. Kauen sei Leben. Nicht zufällig sei sie, wenn sie sich überhaupt zu einer Diät überreden ließ, einer Methode gefolgt, die nicht zu hungern, sondern zu kauen empfahl. Sie erinnere sich an hartgekochte Eier ohne Ende. 

Kauen, sagte sie, das sei für sie wie die Schwingen rühren. Es sei nicht bloß Leerlauf, sondern die Bereitschaftserklärung der Maschinerie, die das Leben in Gang halte. Kauen sei Leben, Nahrung Brennstoff für die Seele, sonst könnten wir ja Steine schlucken. Das Kauwerkzeug, pathetisch ausgedrückt, der Wächter am Eingang zu einem Gebäude, das wie ein Körper aussieht, aber ein Tempel ist. Wenn du hier eintrittst, droht es, wirst du zerkleinert! 

Aber es müsse ein Trick bei der Sache sein, sie tippte auf ihr Kleid, oder ein Haken. Denn wir sähen ja, es gelinge ihr nicht, ihren Körper auf Abstand zu halten. Er sei immer dabei. Es sei schlechterdings unbegreiflich, wie etwas, was weder erwähnt noch benannt geschweige denn angeredet werde, fortdauernd existiere, ja, sich vermehre wie die Herden Abrahams, auf dem Gottes Segen ruhte. Das hier, sagte sie, ist meine Herde. Vergeblich sage sie sich, es sei ein Ausdruck ihres Reichtums, etwas was sie habe, nichts, was ihr fehle. Es könne ein Reichtum sein, ihrer jedenfalls nicht.

Manchmal dämmere ihr die Armseligkeit des Geistes. Dass die Übereinstimmung zwischen Geist und Gerippe ersteren womöglich nicht komplimentiere, sondern bloßstelle. Dass Fleisch und Fett schön, Knochen hässlich seien. Sie könne das nur so in den Raum stellen, es sei nun mal nicht ihr Ressort. Manchmal sehe sie bei andern eine Linie, von der ihr aufgehe, dass sie schöner sein könne als alle Geraden der Welt. Oder sie beobachte einen Schwung, der mit der linearen Geometrie nichts zu tun habe, eine Präsenz, die an die immerwährende Anwesenheit der Bühne im alltäglichen Leben erinnere, eine Inanspruchnahme von Raum, die ihr nun einmal nicht gegeben sei. Wie gesagt, mit ihr habe das alles nichts zu tun, und mit dem hier, sie strich erneut über ihr Kleid, auch nicht. Im Gegenteil. Es sei einfach ein Irrweg, sich einen Körper anzufressen, wenn man ihn nicht beseelen könne. Aber zu glauben, keinen Hintern zu haben, garantiere schon Seele, das sei es auch nicht. Wenn Brecht zitiert werde, dann dürfe sie auch Eichendorff ins Spiel bringen. In der Tat habe sie es immer für eine Conditio sine qua non ihrer Existenz gehalten, jederzeit auf und davon fliegen zu können. Ohne ins Detail zu gehen, könne sie sagen, dieser Vorbehalt sei in ihrer Familie, die ansonsten für ihre Aufopferungsbereitschaft berühmt gewesen sei, geradezu erblich gewesen. Dann kann ich ja gehen, war der Lieblingssatz derer, die fürs Tägliche gesorgt und die Karre am Laufen gehalten hatten. Konnten sie aber nicht. Das Herz habe es ihr zerrissen beim Zusehen.

Sie wies auf die Terrassen unter ihrem Kleid. Sie sei traurig, sagte sie abschließend. Sie komme einfach nicht darüber hinweg. In ihrem ganzen Wesen sei sie aufs Geistige gerichtet, und jetzt das hier. Das sei sie nicht. Ein Pamukkale sei es, ein Ding mit Eigenschaften. Sie sei vielleicht auch ein Ding, aber mit anderen Eigenschaften. Sie könne niemals ein Pamukkale sein. Sie würde sich ja damit abfinden, wenn sie einen Weg fände, das, was nicht sie sei, als ihr zugehörig zu betrachten. Aber so sei sie nun einmal nicht. Mochten andere ganze Kuraufenthalte damit verbringen, „meins“ zu etwas zu sagen, was nicht ihrs war, oder gar „ich“.  Sie nicht.

Manchmal gehe ihr auf, was es heißt, im falschen Körper geboren zu sein, ein Ausdruck, den sie normalerweise nicht möge, weil er suggeriert, man wisse um den richtigen. Aber manchmal spüre sie die Bedeutung des Wörtchens „falsch“ so deutlich, dass ihr klar sei, man muss gar nicht wissen, was ein richtiger Körper ist. Falsch sei ein Ding für sich. Wohlgemerkt, nicht der Körper, sondern dass er falsch ist. Falsch, um ihn zu charakterisieren, reiche. Richtig sei dafür gar nicht nötig. Das eine sei das eine und das andere das andere.

Vermutlich, schloss sie, sei es für sie überhaupt falsch, in einem Körper geboren zu sein. Immerhin könne sie „ich“ sagen, also müsse sie ja irgendwie existieren. Sollte sie sich selbst in einer möglichst körpernahen Weise definieren, dann würde sie sagen, von etwas Festem sei sie das Bewegliche. Dieser Vergleich hinkt? Aber wenn er rüberbringe, was sie sich unter ihrem Körper vorstelle und wie sehr sie in ihrer Erwartung betrogen worden sei, dann habe er seinen Dienst erfüllt. 

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Dieser Beitrag wurde am 8. Juli 2020 veröffentlicht. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink. 2 Kommentare

2 Gedanken zu „Frau S. äußert sich (1)

    • Nebengedanke. Mein Studienfreund Lutz und ich überboten uns damals in Sprüchen. Ein Wettbewerb unter Freunden. Einmal nach dem Mittagessen sagte ich:

      Du lässt was übrig. Ich dagegen verspeise alles, dessen ich habhaft werde.

      Er antwortete trocken:

      Oh, wir hätten noch einiges Nutzgemüse im Garten.

      An dem Tag hatte er gewonnen.

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